Wenn ich an Fabio denke, dann denke ich daran, wie gern ich ihm bei seinen zahlreichen Gitarrenübungsstunden zugehört habe. Dann denke ich an seine feinfühlige Art und wie er sich auch für „unbedeutende“ Dinge wie einen Sonnenaufgang begeistern konnte. Dann denke ich daran, wie er es auch in Streitsituationen immer wieder geschafft hat, mich mit seiner charmanten Art um den Finger zu wickeln. Aber vor allem denke ich an einen Sohn.
Ein leeres Zimmer
Als unsere Tochter, ein Einzelkind, sich dazu entschlossen hat, ein Jahr im Ausland zu verbringen, hat mir der Gedanke ihres leeren Zimmers nicht gefallen. Und so kam relativ schnell der Wunsch auf, eine eigene Austauscherfahrung zu machen. Meinen Mann konnte ich ebenfalls schnell überzeugen und wir entschieden uns, es mal mit einem Jungen im Haus zu probieren. Für uns war es eine goldrichtige Entscheidung, denn mit Fabio aus der Schweiz haben wir tatsächlich einen Sohn hinzugewonnen.
Da es unser erstes Mal als Gastfamilie war, war uns lediglich wichtig, einen Schüler aufzunehmen, der bereits ein paar Deutschkenntnisse hat. Über alles weitere habe ich mir vorher keine großen Sorgen gemacht. Natürlich fragt man sich, wer da wohl bald als neues Familienmitglied in unser Haus kommt. Wird die Chemie stimmen? Wird der Junge sich in unsere Familie integrieren? Wie wird es sprachlich klappen? Kommt da ein „aufmüpfiger“ Teenager, der nur macht, was er will? Aber letztendlich waren all diese Fragen vollkommen unbegründet und wir haben ein tolles Jahr zusammen verbracht. Denn so oder so sollte man die Situation einfach auf sich zukommen und sich überraschen lassen.
Wir lernen uns kennen
Unser erstes Aufeinandertreffen war schließlich etwas lustig. Fabio wurde von meinem Mann und unserer Tochter, die erst kurze Zeit später in ihr Austauschjahr gestartet ist, von seiner Orientierungswoche abgeholt. Ich selbst arbeite viel draußen und da es ein regnerischer Tag war, kam ich recht verdreckt zu Hause an und wurde reserviert mit großen Augen angestarrt. Aber die anschließende Umarmung war ein absoluter Icebreaker und Fabio fortan Bestandteil unserer Familie.
Schon auf der Abschiedsfeier unserer Tochter hat Fabio, der ein sehr offener und lebenslustiger Typ ist, ein paar Leute kennengelernt und war fortan auch viel allein unterwegs. Mit seinen 17 Jahren war er schon sehr selbstständig, hat sich aber auch stets an unsere Absprachen gehalten. So war er sofort in unseren Familienalltag integriert und auch die Sprachbarriere war schnell überwunden. Durch seine Vorkenntnisse hat er von Anfang an viel verstanden, was wir jedoch schnell überschätzt haben, denn unsere Wortspiele verstand er noch nicht, hat sich aber nicht getraut, es zu sagen. Da wir aber schon bald auf einer sehr persönlichen und vertrauensvollen Ebene miteinander sprechen konnten, ließen sich kleine Missverständnisse von Beginn an aus der Welt schaffen und nach einem Jahr hat Fabio fast akzentfrei Deutsch gesprochen. Wir haben auch sehr intime Gespräche geführt und viel über das Leben und Probleme des anderen erfahren. Für mich waren die Gespräche sehr wichtig, denn so konnte ich Fabio viel besser verstehen und auf seine Bedürfnisse eingehen. Ich habe nie Erwartungen an Fabio gehabt, dass er etwas so und so machen muss, und ich denke, durch dieses gegenseitige Kennenlernen und aufeinander Einlassen hat unser Zusammenleben so gut funktioniert. In dem Jahr, in dem er bei uns gelebt hat, habe auch ich mich persönlich weiterentwickelt und habe eine neue Gelassenheit angenommen, die ich jetzt auch bei meinem eigenen Kind verspüre.
Abschied - aber nicht für immer!
Der Abschied kam schließlich schneller als erwartet und war für uns alle sehr traurig. Fabio wollte gar nicht gehen und hätte am Flughafen fast noch seinen Check-in verpasst. Glücklicherweise ist die Schweiz nicht sehr weit entfernt und so steht schon fest, wo unser nächster Urlaub hingeht.
Alles in allem war dieses Jahr eine tolle Erfahrung für uns. Fabio ist ein Bestandteil unserer Familie geworden und auch Wochen, nachdem er weg war, haben mich Leute aus unserem Ort gefragt, wo denn der nette Junge sei, der immer alle so freundlich gegrüßt hat.