Für ein Schuljahr waren wir, ein schwules Paar in Berlin Neukölln, Gasteltern eines Jungen aus Südafrika. Derek, 15 Jahre alt, mit Interesse an Musik und Literatur, kontaktfreudig, jemand der Mal Zeit für sich braucht, selbstständig, und der Lust am Kochen hat. So stand es in seinem Profil. Wir dachten sofort, dass er gut zu uns passen könnte. Ich war selber als Austauschschüler 1983/84 in den USA und engagiere mich seit Jahren ehrenamtlich bei YFU.
Alle Bedenken werden zerstreut
Über YFU haben wir Derek und seine Familie in einem Brief gefragt, ob er sich vorstellen könnte, bei einem Männerpaar zu leben. Er und seine Mutter waren sofort einverstanden, nur sein Vater hatte Bedenken. Durch intensive Gespräche mit einem YFU-Mitarbeiter vor Ort konnten diese aber zerstreut werden und unserem Jahr als Gastfamilie stand nichts mehr im Wege.
Vor seiner Ankunft machten wir uns viele Gedanken: Wie kommt er mit unserem gefüllten Alltag zurecht? Werden wir es gut finden, jeden Abend jemanden beim Essen dabei zu haben? Was machen wir, wenn wir verreisen? Was ist mit der Sprache? Was passiert, wenn er in der Schule sagt, dass er zwei Gastväter hat? Aber dann war vieles doch erschreckend unkompliziert. Wir beschlossen, ihn wie ein eigenes Kind zu behandeln und ihn in allen Dingen zu unterstützen. Wir sprachen mit Geduld von Anfang an Deutsch, übersetzten mal Wichtiges auf Englisch und legten ein Buch an, in dem wir alle neuen deutschen Vokabeln aufschrieben. Wir meldeten ihn auch für einen weiteren Deutschkurs bei der Volkshochschule an.
Und plötzlich Eltern
Und plötzlich saßen wir auf einem Elternabend in einem Gymnasium in Neukölln. Ich frühstückte nicht mehr alleine. Wir achteten darauf, dass er die Zähne putzte, nicht zu spät nach Hause kam und hatten häufig weitere Teenager zu Besuch. Wir halfen bei den Hausaufgaben und sorgten für Mathe-Nachhilfe und Klavierunterricht. Auf unserer Weihnachtsparty spielten Derek und sein anderer Gastvater Luc zusammen Klavier und Cello. Wir fuhren in die Berge, um ihm Schnee zu zeigen und nötigten ihn, mit uns Krokusse zu pflanzen, damit er die Blüte im Frühjahr anders erlebt. Wir erklärten ihm, warum er Kaninchen, die geschlachtet werden, Herr Bronski nach der Band Bronski Beat, aber nicht Frau Morgenstern nennen durfte. Wir lernten viel über Südafrika und später auch seine Eltern kennen, die zu einer Messe nach Düsseldorf kamen.
Richtig ankommen
Es dauerte lange, bis er sich traute, auch mal schlechte Laune zu zeigen. Ab diesem Moment hatten wir das Gefühl, er ist wirklich angekommen. Für uns war es beeindruckend zu erleben, wie er sich veränderte und reifte und immer besser Deutsch konnte. Wir diskutierten über berufliche Möglichkeiten, über Freundschaft und Leben in Deutschland, Südafrika oder auch Frankreich, wo Luc ursprünglich her kommt. Dereks außergewöhnliche Persönlichkeit, eine Mischung aus Reife, Offenheit, positivem Ehrgeiz, Humor und Geduld, machten es sehr einfach für uns, Gastfamilie zu sein.
Abschließend...
... lässt sich das Jahr so zusammenfassen: Wir bekommen einen Austauschschüler, verstehen uns gut, er geht zur Schule und macht den mittleren Schulabschluss. Wir verreisen ein wenig zusammen. Er ist wieder weg und alle sind traurig – nur nicht die Hühner und Herr Bronski.
Carlo Nordloh