Im Juli 2013 bereitete sich unsere 15-jährige Tochter Linda auf ihr Austauschjahr vor. Und wir (Norbert, 56 und Beate, 57) überlegten uns, wie wir die kinderfreie Zeit gestalten, bevor im Sommer 2014, nach Lindas Rückkehr, eine Austauschschülerin bei uns einziehen würde: Zeit für uns, unsere Berufe, unsere Hobbies. Dann kam alles anders: Ziemlich spontan entschieden wir uns, Adam aufzunehmen, der sein Zimmer in Ungarn für Linda frei gemacht und noch keine deutsche Gastfamilie hatte. Und weil wir beide beruflich stark involviert sind und es mit Geschwistern schöner ist, kam Nasko aus Bulgarien dazu. Stoff zum Nachdenken gab es genug: Ein direkter Tausch der Kinder zwischen zwei Gastfamilien ist nicht unproblematisch. Würde uns die Integration ohne die Hilfe eigener Kinder gelingen? Unser eigener Sohn war als Teenager sehr schwierig, würden wir dieselben Probleme wieder erleben?
Wie bei Geschwistern
Sprachprobleme gab es wenig, beide haben in der Schule mehrere Jahre Deutsch gelernt, ihre Kenntnisse entsprachen denen deutscher Schüler nach fünf bis sechs Jahren Englischunterricht. Außer der Leidenschaft fürs gleiche Telefon und Filme gucken haben sie wenig gemeinsam: verschiedene Hobbies, unterschiedliche Schwerpunkte in der Schule, getrennte Freundeskreise. Wie bei Geschwistern sind es verschiedene Temperamente. Und nach wenigen Monaten funktionierte auch die Aufgabenverteilung wie bei Geschwistern: Nasko ist dran, Adam ist dran.
Aber es gab auch Gemeinsames. Wir eroberten die Spielmesse in Essen und haben Abende mit Gesellschaftsspielen (und Reden) verbracht. Unser Weihnachtsausflug führte uns nach Hamburg, unter anderem zum „Phantom der Oper". Zwei Stunden erkundeten die Jungs gemeinsam das Miniaturwunderland und machten Hunderte von Fotos. Und im gemeinsamen Hotelzimmer wurde bis morgens um drei geredet.
Krisen überstehen
Rosenmontag schienen plötzlich die Unterschiede zwischen den beiden unüberwindbar und ein Schüler wollte uns verlassen. Für uns kam das völlig unerwartet. Es waren emotionale 48 Stunden, dank der Unterstützung von YFU und unserer Betreuerin sind wir immer noch eine Familie und der Zauber der ersten Monate ist wieder da. Schwierig war es auch, als in den Medien die Diskussionen um die Wohlstandsflüchtlinge aus Bulgarien und Rumänien losgingen. Ich habe mich zeitweilig für mein Land geschämt. Und während der Parlamentswahlen haben wir durch Adam und Linda die tiefsitzende Angst der Ungarn vor der Rückkehr des Kommunismus erlebt. Manches sehen wir heute mit anderen Augen.
Nun sind neun Monate vorbei, eine gute Gelegenheit zum Reflektieren. Was können wir anderen Familien sagen? Das Schönste zuerst: Wir haben statt zwei jetzt vier Kinder! Ich habe nicht geahnt, dass man fremde Kinder so ins Herz schließen kann. Aber Integration braucht Zeit, darum ist es richtig, die Jugendlichen für ein Jahr an Gastfamilien zu vermitteln.
An Erfahrungen reifen
Es sind Kinder, die zu uns kommen – mit all den Problemen, die in diesem Alter typisch sind. Sie sind launisch oder gefestigt, faul oder fleißig, offen oder zurückhaltend, aber sie alle haben etwas gemeinsam: Sie wollen andere Länder und Menschen kennenlernen. Und wir können erleben, wie sie in diesem Jahr an ihren Erfahrungen reifen, auch - oder gerade - an Krisen. Die eigenen Kinder setzt man schließlich auch nicht beim ersten Streit vor die Tür. Ich bin schon sehr gespannt, wie sich unsere Tochter während ihres Austauschjahres verändert hat.
Es ist nicht Ziel des Austauschjahres, ein Unterhaltungsprogramm oder Reisen zu bieten. Die Jugendlichen sollen Familienleben und die deutsche Kultur kennenlernen. YFU bietet den Jugendlichen genügend Reisemöglichkeiten im Austauschjahr. Zuwendung und Neugierde sind viel wichtiger! Und auch ohne eigene Kinder im Haus kann man Austauschschüler aufnehmen, wenn man bereit ist, sie am eigenen Leben teilhaben zu lassen.
Ich hoffe ich habe anderen Familien Mut gemacht, Gastfamilie zu werden. Und wenn der Platz vorhanden ist, macht es wie wir – nehmt zwei!
Beate Kiesler-Jürgens