Im Herbst 2022 überlegten wir, für unseren Sohn Bent ein Auslandsjahr zu organisieren. Nach einigen Recherchen entschieden wir uns für YFU als Veranstalter. Schnell kam auch in die Diskussion, einem anderen jugendlichen Weltenentdecker Bents dann verwaistes Zimmer und unsere familiäre Obhut zur Verfügung zu stellen.
Bei Bents Bruder Artur und seiner Mutter Barbara allerdings fiel die Idee zunächst nicht auf fruchtbaren Boden. Wie würde es sein mit einem fremden Menschen mit fremden Angewohnheiten und fremdem Benehmen in unserer wohligen Heimstatt? Könnten wir es ertragen, uns in unserer ureigenen Umgebung nicht mehr vollkommen frei bewegen zu können? Demgegenüber stand das Argument, dass ja unser Sohn auch eine nette Familie finden solle, die ihn für ein Jahr aufnimmt. Letztlich überwog letzteres Argument unsere Bedenken und wir entschieden uns, das Wagnis auf uns zu nehmen.
Aller Anfang ist schwer
YFU stellte uns unserem Profil entsprechend einige junge Menschen vor. Wir entschieden uns für Stone, einen sehr sympathischen jungen Chinesen, der sich seinem Profil nach sehr für Kunst und Sport interessierte, match! Es kam nachher natürlich alles ganz anders. Das für uns Wesentliche, die Kunst (wir sind beide Opernsänger), stand hinter dem Sport weit zurück, sehr weit.
Die Zeit des Abschieds kam genau wie die Zeit der Ankunft. Abends holten wir, noch alle vier, Stone in Basel vom Bahnhof ab, feierten gemeinsam ein noch etwas beklemmtes Willkommen. Es war lustig, wie Stone versuchte, mit dem ihm vollkommen ungewohnten Messer Butter auf seinem Brot zu verstreichen. Mit all dem komischen Zeug wie Wurst und Käse konnte er so gar nichts anfangen. Und warum sollte man das alles auf Brot legen, um es zu essen? Wir fanden irgendwo ein Paar Stäbchen für ihn, er aß die Wurst dann ohne Brot. Oh je, das konnte ja etwas werden … . Und am nächsten Morgen brachte ich Bent nach Frankfurt zum Flughafen.
In den ersten Monaten klappte die Integration überhaupt nicht. Wir hatten einen zwar sehr höflichen Menschen in unserem Nest, aber einen extrem eigenbrödlerischen, unkommunikativen Gesellen. Stone verkroch sich in seinem Zimmer, stand morgens um sechs auf, auch am Sonntag, und setzte sich für Stunden an den Schreibtisch zum Lernen, Deutsch, Geschichte, Sütterlin!, … er telefonierte ständig mit chinesisch sprechenden Menschen, redete von „seinen Freunden“, die alle möglichen Leute, aber sicher nicht die Menschen in seinem physischen Umfeld waren. Kurzum, es war zum Haare ausraufen, wir fühlten uns fremd im eigenen Hause und wussten nicht, wie wir diesem armen Menschen, der sich offenbar so unwohl fühlte im fernen Westen, helfen konnten, hier Fuß zu fassen.
Missverständnisse klären sich auf
Wir beschlossen, in den Herbstferien gemeinsam nach Berlin zu fahren, dem Fremden die Hauptstadt zeigen, gemeinsame Momente erleben, Nähe schaffen. Wie überrascht waren wir, als Stone uns kurz vor der Abfahrt seinen Plan für die Zeit in Berlin vorlegte. Da war nicht eine Minute mit uns vorgesehen, er hatte sich mit allen möglichen Leuten verabredet, die er aus dem Vorbereitungsseminar in Hamburg kannte, lauter andere Austauschschüler:innen. Wir fühlten uns restlos benutzt, das musste enden. Wir waren kurz davor, YFU zu bitten, für Stone eine andere Familie oder eben ein Hotel zu suchen, nahmen auch Kontakt zu dem für uns zuständigen Betreuer auf. Zunächst aber machte sich der Frust in einem intensiven gemeinsamen Gespräch Luft. Natürlich offenbarten sich etliche, vor allem kulturelle Missverständnisse.
Die mangelnde Integration im familiären, die devote Haltung den Gasteltern gegenüber, ist natürlich ein kulturelles „Problem“, das Verhältnis der Generationen zueinander ist in China vollkommen anders. Selbst Stones 11 Jahre jüngere Schwester zollt ihrem Bruder Respekt, das ist halt so und lässt sich nur schwer abstellen. Allerdings ließ sich Stone davon überzeugen, dass er im Austauschjahr nicht bereits um sechs Uhr morgens Sütterlin lernen müsse. Ein ganz bischen peinlich war es ihm schon, als ich ihm erklärte, dass so gut wie niemand mehr in Deutschland die alte deutsche Schrift lesen und erst recht nicht schreiben könne. Er kann es nun - flüssig! - mit einer sehr schönen Handschrift!
Stone stellte seinen Berlinplan um, er gab dem familiären „wir“ einen Raum und wir verlebten schöne gemeinsame Momente, manchmal auch mit seinen Freunden. Und natürlich ließen wir ihm auch sehr viel Raum für seine Zeit mit Freunden in Berlin.
Schöne Erinnerungen
Einige von Stones und auch unseren schönsten Erinnerungen fanden im Advent und der Weihnachtszeit statt. Wir sind nicht besonders christlich, aber wir beschlossen, ihm das ganze Brimborium mitsamt Kirchgängen und christlichen Gesängen zu bescheren. Er entzündete die erste Kerze auf dem Adventskranz und sang mit uns „Wir sagen euch an den lieben Advent“, erlebte und feierte evangelische und katholische Gottesdienste und genoss die besondere Zeit mit Freunden, seinen und unseren, in feierlich geschmückten Stuben und auf Weihnachtsmärkten.
Sie ahnen es: Natürlich gabs weitere Crashs of Culture, aber wir hatten vor allem eine tolle, intensive Zeit gegenseitigen kulturellen Austauschs. Im Februar feierten wir das chinesische Neujahr, Stone und ich versuchten traditionelle chinesische Küche in westliches Küchengeschirr und westliche Zutaten zu übersetzen, das Haus meines Vaters erstrahlte in chinesischem Schmuck, wir feierten traditionell mit drei Generationen. Wir wurden begeisterte Sportfans, Fußball, Basketball, Volleyball, wir reisten sogar Stones Turnieren hinterher. Und Stone erlebte soviel Kunst, wie wohl nie zuvor in seinem Leben. Es gibt viel, wundervolle Fotos von glücklichen, gemeinsamen Momenten in aufregend neuen Umgebungen.
Und die Schule machte dem fleißigen Chinesen natürlich überhaupt keine Probleme. Innert kurzer Zeit unterhielt er sich mit seinen neuen Freunden und Lehrern fließend auf Deutsch. Er setzte sich mit dem ihm bis dahin vollkommen unbekanntes Problem der persönlichen Freizeitgestaltung auseinander und begann sich mit Menschen seiner Wahl zu Zeiten seiner Wahl und an Orten seiner Wahl zu treffen. Letztlich fanden wir sogar einen Weg, ihn zum Schuljahresende mit auf die Klassenfahrt zu schicken, der er sich zunächst so händeringend zu entziehen suchte - und sie dann umso mehr genoss. Bents alte Freunde hatten Stone nicht nur adoptiert, sondern auch adaptiert, sie liebten ihn zum Schluss für seine Komik und wollten ihn nur schwer gehen lassen.
Ein hartes Brot - aber es lohnt sich!
Wir möchten Sie ermuntern, sich auch dem Abenteuer zu stellen, einen jungen Menschen in ihre Familie zu lassen. Es ist ein hartes Brot, fast alle Familien, mit denen wir sprachen, hatten ähnliche Erlebnisse und Probleme wie wir. Bei den allerwenigsten läuft es von Anfang an rund. Aber es lohnt sich, auch unsere Welt ist größer geworden, wir durften Teil haben an vollkommen anderen Weltsichten, lernten fremde Gewohnheiten kennen, setzten uns mit uns weniger bekannten Vorlieben auseinander. Und haben viele sehr anrührende unwiederbringliche Momente erleben dürfen.
Wir werden weitere junge Menschen in unsere Familie lassen.