Von Bekannten hatte ich von der Möglichkeit erfahren, Gastfamilie zu werden und habe gleich Lust auf diese besondere Erfahrung bekommen. Über eine Facebook-Anzeige bin ich schließlich auf YFU aufmerksam geworden und da zwei unserer Kinder eh gerade ausgezogen und die Zimmer somit frei waren, passte es zeitlich perfekt. Wir selbst sind eine multikulturelle Familie und daher sehr offen gegenüber anderen Kulturen. Nach der Anmeldung wurde uns u.a. das Profil von Ali aus Ägypten zugeschickt. Er brauchte dringend eine Gastfamilie, um sein Visum beantragen zu können und so entschlossen wir uns, ihn bei uns aufzunehmen.
Aufregung vor der Anreise
Natürlich machte auch ich mir vorher meine Gedanken und Sorgen in Bezug auf Mentalität, Religion, Essen, Ramadan… Letztlich waren sie alle unbegründet! Ali war ein sehr selbstständiger, toleranter und flexibler Junge, der sich schnell in unsere Familie eingegliedert hat. Als wir ihn vom Bahnhof abholten, kam uns ein cooler arabischer Junge mit Sonnenbrille entgegen. Wir sind uns sofort in die Arme gefallen und ab dem Moment war es, als hätten wir ein weiteres Kind bekommen.
Familienleben, Alltag und Mentalität
Durch seine offene und unkomplizierte Art hat er nicht nur schnell Freunde in der Schule und unter den anderen Austauschschülern gefunden, sondern ist ein fester Teil unserer Familie geworden. Er war sehr angepasst und wir hatten ein tolles Jahr zusammen. Gemeinsam sind wir nach Berlin und Paris gefahren, wo er auch den französischen Teil unserer Familien kennenlernte. Wir hatten auch viele angeregte Diskussionen über Religion und Politik. Unsere Tochter (13 Jahre) hatte manchmal so ihre Probleme mit manchen „Macho-Sprüchen“, die Ali von sich gab. Aber auch das gehört zum Austausch dazu: Den Anderen und seine Ansichten bzw. Mentalität zu akzeptieren und zu respektieren, aber auch die eigene Sichtweise näherzubringen. Dies war eine große Bereicherung für uns alle.
Ansonsten war Ali wie alle anderen Jugendlichen auch. Da er sehr guten Anschluss in der Schule gefunden hatte, war er an den Wochenenden viel mit seinen Freunden unterwegs. Und hier machte sich seine muslimische Mentalität besonders bemerkbar: Während andere Jugendliche in dem Alter gern mal eskalieren, konnte ich ihm als Gastmutter vollkommen vertrauen – kein Alkohol, kein Rauchen, keine Mädchen.
Ramadan – kein Problem!
Besonders aufgeregt war ich vor dem Ramadan: Wie würde es mit dem Kochen und den Essenszeiten werden? Wir haben von Anfang an sehr offen darüber gesprochen und im Endeffekt waren alle Sorgen unbegründet. Dank Ali lief diese Zeit ganz locker ab, er hat alles allein geregelt. In unserer Familie wird sowieso nicht sehr viel Schweinefleisch gegessen, sodass Ali nachts aufgestanden ist, sich das Essen vom Abend warm gemacht hat und danach auch alles wieder hinter sich aufgeräumt hat.
Einprägsame Erfahrungen
Ein besonders lustiges Erlebnis ereignete sich nach den Herbstferien. Durch die Zeitumstellung war es nun morgens noch dunkel, als er zur Schule sollte. An einem Morgen, der noch dazu sehr regnerisch war, kam er plötzlich wieder zur Tür rein. Als ich ihn fragte, warum er denn nicht auf dem Weg in die Schule sei, entgegnete er, er dachte, sie falle aufgrund der Dunkelheit und des Regens aus. In Ägypten ist das so.
Auch Weihnachten war für ihn eine ganz neue Erfahrung, die er sehr genoss. Allgemein fehlten ihm Familienfeste, von denen es in seiner Heimat viel mehr gibt. Dort trifft sich die ganze Familie jeden Freitag.
Weihnachten markierte außerdem einen weiteren Meilenstein im Laufe des Austauschjahrs: Zu diesem Zeitpunkt sprach Ali nahezu fließend Deutsch. Angereist war er nur mit einigen Sprachbasics, aber dank seines Ehrgeizes, seiner Zielstrebigkeit und einer Magic Tafel lernte er die Sprache sehr schnell.
Der Abschied naht
Das Jahr mit Ali verging wie im Fluge und der Abschied rückte viel zu schnell heran. Es gab ein großes Abschiedsfest mit ca. 70 Leuten, das wir direkt mit seinem Geburtstag kombinierten, aber auch noch ein Familienessen im kleinen Kreis.
Der Abschied am Bahnhof war für uns alle sehr schlimm und schmerzhaft, es sind viele Tränen geflossen. Obwohl auch einige Freunde mit am Bahnhof waren, hat Ali die ganze Zeit hauptsächlich mich umarmt.
Rückblickend hat Ali einfach perfekt wie ein Puzzlestück in unsere Familie gepasst. Wir vermissen ihn sehr und haben auch jetzt noch jeden Tag Kontakt.