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YFU-Blog

Aktuelles aus Verein und Austauschwelt

Praxis trifft Theorie: Internationaler Jugendaustausch und Politische Bildung

29. Juli 2022

Ein Beitrag von YFU-Geschäftsführer Knut Möller.

 

15-, 16- oder 17-jährige Jugendliche, die ein Schuljahr im Ausland verbringen wollen, freuen sich auf ein großes Abenteuer. Sie wollen Freund*innen in anderen Ländern finden, mit ihnen feiern, neue Hobbys ausprobieren und Erfahrungen machen, die sie zu Hause, bei den Eltern, in der eigenen Stadt, an der eigenen Schule nicht machen können. Der Reiz, der mit Austauschprogrammen verbunden ist und der sie so populär macht, liegt in der Überschreitung von Grenzen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Es geht um Grenzüberschreitungen, und es geht um Spaß.

 

Mitarbeiter*innen, die sich in gemeinnützigen Austauschorganisationen engagieren, legen hingegen Wert darauf, dass die einjährigen Austauschprogramme keinen touristischen Charakter haben, sondern eine Bildungserfahrung sind.

 

Wie sind diese unterschiedlichen Erwartungen von Teilnehmer*innen und Anbietern zu vereinbaren? Ganz einfach – Spaß und Bildung sind nur scheinbar ein Widerspruch. Die Spannung zwischen den beiden Polen wird in den allermeisten Fällen wunderbar gehalten – und genau das macht die besondere Attraktivität und den Erfolg des langfristigen Schüleraustausches aus: Das Leben in einer Gastfamilie und der Besuch einer Schule im Aufnahmeland, das Finden neuer Freund*innen in einem anderen Land, das Erlernen einer Fremdsprache im Alltag – dabei wächst man über sich hinaus, es ist eine nachhaltige Bildungserfahrung. Und es ist ein großer Spaß.

 

Die Bildungswirkung, die ein langfristiger Schüleraustausch in den meisten Fällen hervorruft, hat einen nachhaltigen Wert, selbst wenn sie sich nur auf das eigene Leben und die eigene Entwicklung bezieht. Der Wert wird aber umso größer, wenn der Reflexionsprozess, der die eigene Erfahrung begleitet, auch eine gesellschaftliche, eine politische Dimension bekommt. Das kann „von selbst“, also auf Initiative des Schülers*der Schülerin geschehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es geschieht, wird aber größer, wenn die Reflexion durch pädagogische Angebote angeregt und bereichert wird.

 

Bildungsangebote – insbesondere in Form von mehrtägigen Seminaren – werden von den Austauschschüler*innen gern angenommen. Austauschorganisationen müssen sich entscheiden, wieviel sie in die pädagogische Begleitung ihrer Programme investieren. Ein Mindestmaß an persönlicher Unterstützung und Betreuung wird jede Organisation sicherstellen. Die Spreu trennt sich aber vom Weizen, wenn entschieden wird, ob die ein Austauschjahr begleitenden Seminare und die Bildungsangebote auch einen politischen Anspruch verfolgen. Wer diesen Anspruch hat, braucht ein didaktisches Konzept, in dem die Bildungsziele, die erreicht werden sollen, die Lerninhalte und die Methoden beschrieben werden. Und das ist der Punkt, an dem das Feld der Politischen Bildung betreten wird.

 

Außerschulische Politische Bildung und Langfristiger Jugendaustausch – zwei Felder, ein Ziel

 

Seit den 50er und 60er Jahren gibt es in der Bundesrepublik Deutschland eine aktive Szene der Politischen Bildung und einen intensiven Diskurs über deren Ziele, Inhalte und Methoden. Lernerfahrungen neben und außerhalb der Schule sind eine besondere und eine besonders nachhaltige Form der Demokratiebildung (vgl. Widmaier, 2021, Extremismuspräventive Demokratieförderung).

Auch der langfristige individuelle Schüleraustausch ist in der Nachkriegszeit als Reaktion auf die Erfahrungen der Nazi-Zeit entstanden. Die USA, die Austauschprogramme damals wie heute als Teil ihrer Außenpolitik finanzieren, haben dabei die entscheidende Rolle gespielt und ihre Intention mit dem Begriff Re-Education beschrieben. Die damals aus den USA zurückgekehrten Alumni haben dann hier in Deutschland Vereine gegründet, die die Programme auch weiter betrieben, als die US-Regierung sie nicht mehr finanzierte, und im Laufe der Zeit um den Austausch mit anderen Ländern erweitert. Sie haben ihre Arbeit ausdrücklich als Beitrag zur Demokratiebildung, zur Erneuerung Deutschlands nach der Katastrophe des Holocaust, der faschistischen Diktatur und des Krieges verstanden.

 

Für die meisten ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen der Austauschorganisationen, die Mitglied im Dachverband AJA sind, ist der Aspekt der Demokratiebildung nach wie vor handlungsleitend. YFU hat auch heute noch den Anspruch, den Teilnehmer*innen im Rahmen der Austauschprogramme Angebote der Politischen Bildung zu machen. Ein Blick auf die Bildungsziele des Vereins macht dies deutlich (siehe www.yfu.de/ueber-yfu). Die Tagungen vor und nach dem Austauschaufenthalt sowie die begleitenden Seminare sollen die Schüler*innen in die Lage versetzen, sich selbst, ihre Herkunft und Prägung sowie ihre Erfahrungen zu reflektieren – individuell wie auch gesellschaftlich.

 

Der Dialog zwischen beiden Feldern ist nicht intensiv genug

 

Austauschorganisationen und Wissenschaft im Hinblick auf Politische Bildung zusammenzubringen – das ist das Vorhaben der Initiative „Forschung und Praxis im Dialog“, die vom BMFSFJ gefördert wird. Sie leistet einen wichtigen Beitrag zum Diskurs innerhalb der Szene der Internationalen Jugendarbeit. Doch ein intensiver, nachhaltiger Dialog zwischen Politischer Bildung und dem Jugend- und Schüleraustausch wird bisher auch dort nicht geführt. Die von den Akteuren der Politischen Bildung erarbeiteten Ansätze und Methoden stellen jedoch eine Ressource für die Austauschorganisationen dar, die weitaus besser als bisher genutzt werden könnte.

 

Vielleicht wäre es sogar möglich, dass die pädagogische Praxis des Langfristigen Schüleraustausches (insbesondere die peer-to-peer-Methodik) und dessen Kontakte (vor allem die in Länder auf anderen Kontinenten) für das Feld der Politischen Bildung anregend sind.

 

Das Buch „Internationale Jugendarbeit und politische Theorie“ – ein Interview mit dem Autor

 

Der Wissenschaftler Dr. Stefan Schäfer versucht mit seinem Buch „Internationale Jugendarbeit und politische Theorie“ Verbindungen zwischen den beiden Feldern herzustellen und ist deshalb von großem Interesse für uns. Entsprechend erwartungsvoll bin ich gewesen, als das Buch veröffentlicht wurde. Die stark akademische Sprache machte es mir aber schwer, das Buch zu lesen, die Thesen zu verstehen und es vor allem auch den Kolleg*innen unserer Geschäftsstelle sowie den ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen des Vereins zu empfehlen. Ich habe das Buch dennoch als außerordentlich wertvoll und anregend empfunden. Es wäre aus meiner Sicht ein großer Gewinn, wenn es in der Szene des Jugend- und Schüleraustausches wahrgenommen, diskutiert und für die Weiterentwicklung der pädagogischen Konzepte verwendet werden würde.

 

Ich habe Stefan deshalb um ein Interview gebeten, und er hat zu meiner großen Freude eingewilligt. Unser Gedankenaustausch hat sich als interessant und intensiv erwiesen; es ist nicht bei einem Gesprächstermin geblieben (Anmerkung der Redaktion: Die Gespräche zwischen Knut Möller und Dr. Stefan Schäfer fanden zwischen Oktober und Dezember 2021 statt).

 

Die schriftliche Fassung des Interviews, an der wir im Anschluss gemeinsam gearbeitet haben, ist sehr lang geworden. Wir möchten damit einen Beitrag dazu leisten, den Dialog zwischen der Theorie der Politischen Bildung und der Praxis des Internationalen Jugendaustausches zu verstärken. Aus unserer Sicht müssen sich beide Sphären regelmäßig begegnen und gemeinsam arbeiten. Es geht nicht nur darum, dass die Forschung die Praxis untersucht, und die Praxis die Veröffentlichungen der Wissenschaft studiert. Es muss ein kontinuierlicher Dialog stattfinden, und beide Seiten müssen sich gegenseitig fordern, befruchten und unterstützen.

 

Wir sind gespannt, ob und welche Reaktionen es auf den gemeinsamen Text geben wird und freuen uns über jede Rückmeldung (info@yfu.de). Hier findet sich die schriftliche Fassung unseres Gesprächs.

 

Fachkonferenz Jugend und Schüleraustausch im Herbst 2022

 

Die Intensivierung des Dialogs zwischen Forschung und Praxis sowie allen anderen Feldern, die Berührungspunkte zum internationalen Jugend- und Schüleraustausch haben, ist auch das Ziel einer Fachkonferenz, die im Oktober 2022 in Potsdam stattfinden wird. Außer Repräsentant*innen von Austauschorganisationen und Wissenschaftler*innen werden Vertreter*innen von Stiftungen teilnehmen, von Jugendwerken sowie Fach- und Förderstellen der Internationalen Jugendarbeit, von IJAB, vom PAD, von Austausch macht Schule, Lehrer*innen und Schulleitungen, Vertreter*innen von Kultusministerien der Bundesländer und von Bundesministerien sowie Journalist*innen.

 

Alle Informationen und das Programm der Fachkonferenz sind zu finden unter: www.fk-jugendaustausch.de.

 

Dr. Stefan Schäfer im Interview mit YFU-Geschäftsführer Knut Möller

Dr. Stefan Schäfer im Interview mit YFU-Geschäftsführer Knut Möller

YFU im Gespräch mit Wissenschaftlern