Das, was ich fühle, kann ich eigentlich kaum in Worte fassen. Alles ist aufregend, neu, manchmal etwas beängstigend, voller Freude, aber vor allem ist es unglaublich.
Bis zu meinem Abflug hatte ich noch gar nicht richtig realisiert, wie nah das Abenteuer auf einmal in so schneller Zeit gekommen war. Mit der Planung meines Auslandsjahres hatte ich mit meiner Familie schon über ein Jahr vorher begonnen und bis zum letzten Augenblick schien für mich alles noch weit entfernt zu sein. Das Gefühl, dass ich jetzt ein Jahr lang meine Familie nicht mehr sehen werde, dass ich bei einer Familie leben werde, die ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht gekannt habe, dass alles neu sein wird, das kam dann erst, als ich schon in Ungarn angekommen war.
Nur drei Mahlzeiten??
In den letzten drei Monaten hatte ich schon genug Zeit, um mich einzuleben, das Land etwas zu erkunden, die Sprache zu lernen und auch die Ungarn und ihre Kultur kennenzulernen.
So hat in Ungarn vor allem das Essen eine sehr wichtige Rolle. Es gibt auf jeden Fall viel zu essen, meiner Meinung nach oftmals zu viel. Meine Gastmutter war ganz schockiert, als ich ihr erzählt habe, dass ich in Deutschland am Tag „nur" drei Mahlzeiten esse. Hier gibt es sogar extra Wörter für das Essen zwischen Frühstück und Mittagessen und für die Mahlzeit zwischen Mittagessen und Abendbrot. Ich habe schon einige lustige Geschehnisse während des Essens hinter mir. Als ich bei meiner Gastfamilie gekommen bin, gab es erst einmal Essen – ich hatte nur vorher schon zu Mittag gegessen. Wir haben mit meinen Gastgroßeltern gegessen und meine Gastoma drängte mich die ganze Zeit, wild zwischen Teller, Essen und mir hin und her gestikulierend, noch mehr zu nehmen. Ich dachte mir dann, dass ich mir aus Höflichkeit noch einmal aufnehme. Als ich dann aber fertig war wurde mir gesagt, ich solle doch mehr nehmen und keine Angst haben, was ich dankend abgelehnt habe. Nachdem ich zum dritten Mal von einer nächsten Portion abgedankt hatte, nahm meine Gastoma selbst den Löffel in die Hand und wollte mir noch mehr auftun. Zum Glück konnte das durch eine Heldentat meiner Gastmutter doch noch ungeschehen bleiben, als sie meinte, dass ich jetzt vielleicht wirklich erst einmal satt sein würde, es gäbe ja später auch noch Abendessen.
Liebenswert chaotische Ungarn
Bevor die Schule begann, hatte ich noch zwei Wochen Ferien, in denen ich meine Familie und auch die Ungarn allgemein besser kennengelernt habe, ein paar Ausflüge in Budapest gemacht habe und versucht habe, mich schon einmal etwas in der Sprache zurechtzufinden.
Die Ungarn würde ich als sehr gastfreundlich und fürsorglich, freundlich und hilfsbereit beschreiben, was mir vor allem in der Schule jeden Tag aufs Neue auffällt. In den ersten Tagen sind sehr viele Schüler auf mich zugekommen und sich vorzustellen oder um mir ihre Hilfe anzubieten und auch jetzt eilen mir meine Mitschüler noch oft zu Hilfe oder bieten mir an, dass wir gemeinsam etwas unternehmen könnten. Am Anfang sind sie allerdings meistens etwas schüchterner, sodass man erst einmal das Eis brechen muss. Und sie sind in manchen Dingen auch einfach chaotisch und etwas verplant. Es gibt einen ungarischen Film über die Ungarn, in dem sie in einer etwas übertriebenen Weise in verschiedenen Situationen gezeigt werden. Es wurde zum Beispiel ein Haus gebaut und als die Familie dann einzieht, fällt ihnen beim Schließen der Tür auf, dass sie vergessen haben, Fenster einzubauen. Sie gehen also mit großen Säcken nach draußen und fangen das Sonnenlicht ein, damit sie Licht in ihrem Haus haben. Und manchmal habe ich dann wirklich das Gefühl, dass ich genau diesen Ungarn jeden Tag begegne. Aber in ihrer Art sind die Ungarn auf jeden Fall absolut liebenswert.
Nationalhymne in der Schule
Vor meinem ersten Schultag war ich weniger aufgeregt sondern eher gespannt, was als nächstes kommt. Ich mache bei dem Ungarn-Musikprogramm von YFU mit, weshalb ich auf eine Musikschule in Budapest gehe. Mit 150 Schülern ist diese ziemlich klein und jeder kennt jeden, was uns alle zu einer großen Familie macht.
Am ersten Schultag tragen alle Schüler in ganz Ungarn formelle Kleidung, also schwarze Hose oder Rock und dazu weiße Bluse oder Hemd. Zuerst gab es eine Eröffnungsfeier, bei der der Schulleiter eine Rede gehalten hatte. Vorher sind alle aufgestanden und haben die Nationalhymne von Ungarn gesungen. Das war neu für mich. Mir ist aufgefallen, dass ich in Deutschland noch nie richtig die Nationalhymne gesungen habe. Wir haben den Text nie in der Schule gelernt und an Feiertagen habe ich sie auch noch nie gesungen oder singen gehört. Aber es hatte ein Gefühl von Zusammengehörigkeit. Dieses Gefühl hatte ich auch schon bei dem Ungarischen Nationalfeiertag am 20. August, bei dem alle Ungarn einfach zusammen waren und zusammen die Geschichte und Existenz Ungarns gefeiert haben. In der Schule wird an jedem Feiertag die Nationalhymne gesungen und von den Feiertagen gibt es einige in Ungarn.
Storchball und Emo-Verkleidung
Ich bin in einer 9. Klasse, es ist für meine Mitschüler also auch das erste Jahr auf der Schule, weil die weiterführenden Schulen meistens ab der 9. Klasse beginnen. Und für alle Erstklässler gibt es den „gólyabál", den Storchball, bei dem die Zweitklässler Spiele und Aufgaben für die neuen Erstklässler vorbereiten und sie danach dann als neue Schüler in der Schule aufnehmen. An dem Tag mussten wir in kurzen Hosen, langen Strümpfen, Sandalen und T-Shirts in den Hosen zur Schule kommen, was mich stark an das Bild eines „typischen Deutschen" erinnert hat. Zu den Aufgaben und Spielen mussten sich alle verkleiden. So kam es dann, dass ich als Emo verkleidet vor der gesamten Schule ein Wettrennen gemacht habe, bei dem ich versuchen musste, einen Kugelschreiber, der mir um die Hüfte gebunden war, so schnell wie möglich in die Öffnungen leerer Glasflaschen zu stecken.
Lustige Missverständnisse
Als ich in Ungarn angekommen bin, konnte ich noch gar kein Ungarisch sprechen und habe auch später in der Schule noch gar nichts verstanden. Ich übe jeden Tag etwas Ungarisch und mittlerweile verstehe ich schon viel und kann mich auch schon richtig unterhalten. Nur die Grammatik ist etwas verwirrend, weil alles komplett anders ist als im Deutschen. Mit der Sprache gab es auch schon ein paar lustige Missverständnisse und etliche peinliche Situationen.
Wenn ich mit der Straßenbahn fahre, werde ich öfter von Leuten angesprochen, die mich fragen, wohin die Straßenbahn fährt oder welche sie nehmen müssen, um irgendwohin zu kommen. Das erste Mal, als ich jemanden wirklich verstanden hatte, hatte mich das so überrascht, dass ich gar nichts antworten konnte und ihn einfach nur mit offenem Mund angestarrt habe. Das hatte ihn glaube ich etwas verwirrt und er hat erst einmal gefragt, ob es mir gut gehen würde. Darauf meinte ich dann auf Ungarisch, dass es mir leidtun würde, aber ich würde kein Ungarisch sprechen. Das hatte ihn dann glaube ich noch mehr verwirrt.
Oder auch bei meinem ersten Frühstück bei meiner Gastfamilie, wo ich sagen wollte, dass ich satt bin, weil ich das Fehlen dieser Vokabel nach meinem ersten Mittagessen bemerkt hatte und es am Abend extra noch gelernt hatte. Allerdings hat „tele vagyok", etwa „ ich bin voll", große Ähnlichkeit mit „teve vagyok", was heißt, dass ich ein Kamel bin. Und das habe ich dann natürlich auch gesagt, woraufhin ich gleich noch mehr zu essen bekommen habe.
Ich merke, wie ich mich jeden Tag besser zu Recht finde. Ich habe mich schnell in Ungarn eingewöhnt und auch in meine Familie konnte ich mich sehr schnell einleben. Am Anfang hatte ich große Bedenken, ob ich je Ungarisch lernen werde, aber wenn man es jeden Tag hört und spricht und versucht zu lernen, geht das schneller, als man denkt. Und obwohl ich erst drei Monate hier bin, will ich jetzt schon nicht mehr weg.