Monterrey, im Norden Mexikos. Es ist der achte August, 22.30 Uhr. Ich sitze bei fremden Menschen im Auto und fahre an einen mir unbekannten Ort. Diese Menschen werde ich bald als so etwas wie meine „Zweite Familie“ ansehen und dieser unbekannte Ort wird schnell für mich wie ein neues Zuhause sein. Aber das weiß ich in diesem Moment natürlich noch nicht. Diese Fremden sind meine Gastfamilie, bei denen ich mein Austauschjahr verbringen werde. Sie haben mich gerade vom Flughafen abgeholt und alle reden auf mich ein. Da mein Spanisch noch nicht wirklich gut ist, lächle ich einfach nur und nicke ab und zu. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich diese seltsam klingenden Wörter irgendwann verstehen werde. Unendlich viele Fragen und Gedanken fliegen durch meinen Kopf. Als wir plötzlich vor einem riesigen Gebäude vor dem eine Menschenmenge steht, anhalten, werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Und dann verstehe ich, was meine Gastmutter die ganze Zeit mit „Fiesta“ gemeint hat. Meine erste Nacht mit meine Gastfamilie hab ich auf einer typisch mexikanischen Fiesta verbracht. Jeder dort begrüßte mich freundlich und ich wurde von allen herzlich umarmt. All die Ängste und Sorgen sind in dieser Nacht verflogen. Dieses Jahr kann einfach nur super werden...
Ich lebe hier in Montemorelos, ein „kleiner Ort“ (ca 54.000 Einwohner) im Bundesstaat Nuevo Leon, also im Norden von Mexico. Monterey, die dritt-größte Stadt Mexikos liegt gerade mal 45 Kilometer entfernt und zur texanischen Grenze braucht man nur knapp zweieinhalb Stunden, deshalb fährt man auch mal nur zum „Shoppen“ in die USA. Meine Gastfamilie ist total nett und ich fühle mich richtig wohl bei ihnen. Mein Gastvater ist der Direktor meiner Schule und unterrichtet Biologie, Chemie, Geschichte und Kunst; meine Gastmutter ist auch Lehrerin, aber an einer anderen Schule. Sie unterrichtet Musik, Spanisch und Geschichte. Mein Gastbruder studiert in Monterrey Medizin. Wir haben auch eine Haushälterin die jeden Tag hier arbeitet und so fast zur Familie gehört. Aufgrund ihrer total verrückten und aufgedrehten Art wird sie von der ganzen Familie „Crazy Lucy“ genannt. Außerdem liebt sie es, uns Streiche zu spielen. So hat sie zum Beispiel einmal die ganzen Möbel meines Zimmers so verschoben, dass es genau spiegelverkehrt war und als ich verdutzt sah, was sie angestellt hatte, hat sie einen langen Lachanfall bekommen.Doch nicht nur Lucy ist „crazy“ sondern ganz Mexiko, deshalb habe ich hier jeden Tag Spaß. Sei es mit meinen Freunden in der Schule, wenn sie versuchen mit mir Deutsch zu sprechen und dabei nur irgendwelche seltsamen Geräusche von sich geben oder wenn sich meine Gastmutter mit mir „pantomimisch“ unterhält, nie wird es hier langweilig.
Aus den Büchern über Mexiko wusste ich schon, dass die allermeisten Mexikaner Patrioten sind und doch war es irgendwie ein seltsames Gefühl für mich, als ich das erste Mal den allwöchentlichen „Einzug der Flagge“ in meiner Schule miterlebt habe. Den gibt es jeden Montag vor Schulbeginn und alle Schüler und Lehrer singen stolz ihre Nationalhymne während „auserwählte Schüler“ die Fahne in die Aula tragen. Als ich meinen Mitschülern erzählt habe, dass wir so etwas in Deutschland nicht machen und dass es bei der WM in Deutschland etwas ganz Besonderes war, als jeder „Flagge“ gezeigt hat, konnten sie es zuerst gar nicht glauben. Wenn ich hier über den Patriotismus schreibe, muss ich sofort an den 16. September und das, was ich an diesem Tag erlebt habe, denken. Der 16. September ist einer der größtem Feiertage der Mexikaner. An diesem Tag und auch schon in der Nacht zuvor wird die Unabhängigkeit von Spanien gefeiert. Schon Tage zuvor habe ich mit meinem Gastbruder und meinem Gastvater Feuerwerk eingekauft und als der Abend endlich gekommen war, zogen wir uns alle traditionelle mexikanische Kleidung an und gingen auf eine „noche mexicana“ (mexikanische Nacht). Dort gab es ein riesengroßes Buffet mit Taccos, Tortillas und all den anderen mexikanischen Gerichten. Um zwölf Uhr nachts wurde dann das Feuerwerk gezündet und alle riefen dreimal „Viva Mexico“ und danach die Namen der Revolutionäre. Dieser Abend war ein sehr interessantes Erlebnis und ich werde ihn wohl nicht so schnell vergessen.
Da die Mexikaner, die ich kenne, offen und freundlich sind, habe ich sehr schnell Freunde gefunden. Mit ihnen treffe ich mich auch in meiner Freizeit, zum Beispiel in der Basketball-Mannschaft der Schule oder beim Gitarrenunterricht. So habe ich auch schon ziemlich früh die „Pünktlichkeit“ der Mexikaner zu spüren bekommen. Wenn hier jemand sagt: „Wir treffen uns um 15 Uhr“ kommen normalerweise die ersten Leute ungefähr eine halbe Stunde später und die letzten erst um 17 Uhr. Schon häufig musste ich bei Terminen auf andere warten oder wurde bei einer Fiesta seltsam angeschaut, wenn ich zur vereinbarten Uhrzeit da war und alle noch bei den Vorbereitungen waren.
Zum Thema Mentalität muss ich noch erwähnen, dass die Mexikaner die wahrscheinlich gastfreundlichsten Menschen der Welt sind. Der häufigste Spruch, den man hier als Gast zu hören bekommt ist „Mi casa es tu casa“ (Mein Haus ist dein Haus), was so viel heißt, dass man jeder Zeit willkommen ist.
Doch es gab nicht nur schöne Erlebnisse hier in Mexiko, so wurde ich anfangs sehr mit dem Vorurteil „Deutsch ist gleich Nazi“ konfrontiert. Als ich eines Tages ein Hakenkreuz auf meinem Spint vorfand hatte ich genug. Ich entschloss mich einen Vortrag über „Das Dritte Reich und den heutigen Umgang mit diesem Thema in Deutschland“ zu halten um dieses Vorurteil, natürlich nicht aus der Welt, aber zumindest aus meiner Umwelt zu schaffen. Nach dem Vortrag kamen viele zu mir und meinten, dass sie das alles nicht gewusst haben und entschuldigten sich für ihr Benehmen. Genau das ist einer der positiven Effekte eines Austauschjahres: nicht nur der Austauschschüler verliert seine Vorurteile über sein Gastland, weil er es erlebt wie es in Wirklichkeit ist, sondern auch die Menschen aus dem Gastland verlieren ihre Vorurteile über das Land des Austauschschülers. So macht man die Welt zu einem etwas friedlicheren Ort.
Ein weiteres unvergessliches Erlebnis war der „Tag der Toten“ am zweiten November. Schon morgens bin ich mit der gesamten Familie, und die ist in Mexiko riesig, auf den Friedhof gefahren um der Toten zu gedenken. Das macht man in Mexiko aber nicht in stiller Trauer. Überall auf dem Friedhof gab es Verkaufststände, die Essen anboten, riesige Trampoline für die Kinder und Musiker, die an den Gräbern die Lieblingslieder der Verstorbenen vorspielten, während die Familie laut mitsingt. Zuerst irritierte mich das Ganze, aber dann bemerkte ich, dass es einfach nur eine andere Art zu Trauern ist. Es hat etwas Schönes, wenn die gesamte Familie, also alle Onkel und Tanten und Omas und Opas zusammen sitzen, die Lieblingsspeise des Verstorbenen essen und seine Lieblingsmusik hören und für ihn vorsingen.