Zugegeben: Als ich meiner Mutter einläutete, dass ich mein Auslandsjahr gerne in Brasilien oder Südafrika verbringen würde, fing sie nicht an einen Regentanz zu tanzen oder ein Lamm als Dankesopfer zu schlachten. Mein Vater hätte mich auch lieber in Kanada oder der USA gesehen (am liebsten schön weit weg hm), aber diese zwei Länder zogen mich eigentlich immer nur als Touristin an, nicht wirklich als Heimat für ein Jahr. Mom wollte Nähe, eine pädagogisch wertvolle Sprache (nicht wie portugiesisch?), und so viel Kultur und Schule wie man in so ein Jahr nur einpacken kann, also fiel die Wahl auf England, wo sich unsere ganze Familie schon öfter aufgehalten hatte.
Ankunft in England
Also setzte ich mich am 30. August in den Flieger nach London, und danach ging alles ziemlich flott. Nach dem Soft-Landing-Camp, wo wir zum Beispiel Cambridge besuchten und wo wir theoretische Dinge lernen sollten wie „How to wash dishes English-style“, wurde ich bei meiner Gastfamilie abgeladen. Und wenn Ihr, als Ihr die Überschrift gelesen habt, direkt einen Ohrwurm von „London Calling“ bekommen habt, dann liegt Ihr da leider ziemlich falsch. Anna wurde aufs Land verfrachtet, in eine Kleinstadt namens Sudbury in dem Bundesland Suffolk, anderthalb Stunden von London entfernt mit dem Zug. Klar, erst ist man da leicht enttäuscht, aber es stellte sich schnell heraus, dass es in Sudbury mit Ausnahme eines Kinos alles gibt was frau braucht und noch mehr, was immer noch besser ist als die Kühe nebenan Zuhause in Deutschland, oder? Meine Freunde sind keine Fans von Sudbury, ich liebe es tatsächlich: wunderschöne Natur, viele Restaurants, ein Theater, eine Schwimmhalle und zwei Fitnesscentren - ein Kino wird momentan gebaut. Ich habe mich nicht oft in London aufgehalten, dafür aber in Ipswich, Bury oder Colchester, die als größere Städte gelten.
Mein neues Zuhause und der erste Schultag
Mein neues Zuhause bestand aus einem großen, alten gelblichen Haus, das einen riesigen Garten besitzt. Mein Zimmer hat mir ziemlich gefallen, obwohl es sehr einfach war. Leider wurde aber während der Winterzeit nicht geheizt und da das Haus nicht isoliert ist, wurde es teilweise Minusgrade kalt in meinem Zimmer… aber ich habe überlebt.
Mein erster Schultag war einfach… grässlich. Ich kannte keine einzige Person und ich gesellte mich zu einer Clique, in der die Mädels 10 Minuten nur über ihre Nägel redeten und sich gegenseitig mit Dialogen schmeichelten wie „Ich hasse meine Haare SO SEHR!“ „Quatsch honey, du hast WUNDERSCHÖNE HAARE!“. Ich war ziemlich verunsichert, aber am nächsten Tag fand ich natürlich Freunde und tadaaa, ich war wieder einer der glücklichsten Menschen des Jahrhunderts. Mittlerweile kann ich stolz behaupten, dass dreiviertel der Jahrgangsstufe mit mir befreundet ist, und dass ich mit fast allen über etwas reden kann. Ich liebe die meisten englischen Jugendliche… sie sind etwas anders als deutsche Jugendliche, erwachsener und selbstständiger.
Die Unterschiede zu Deutschland
England ist aus vielerlei Hinsicht ähnlich wie Deutschland, aber teilweise auch total anders, zum Beispiel mit Blick auf das Essen oder die Hygiene. Ich glaube das hängt auch von der Gastfamilie ab, aber wir essen jeden Tag Fleisch und trinken nur Leitungswasser, was am Anfang sehr ungewöhnlich war. Das Haus ist nicht sehr sauber, und wenn ein deutscher Mitbürger das Auto sehen würde, würde er umfallen… aber mein Zimmer putze ich selber. Nichtdestotrotz ist die Gastfamilie und generell die meisten englischen Leute sehr lieb, und wie gesagt, diese independence finde ich super… die Familie, meine Schule, mein Tennisclub – jeder einzelnen Person wird vertraut und Eigenständigkeit wird gefördert.
Sprache und Schule
Die Sprache aufzunehmen fiel mir nicht schwer und ich denke, dass es bei jedem so wäre, weil man irgendwann plötzlich anfängt auf Englisch zu träumen und nicht mehr so viel auf Deutsch zu reden. Das Schulsystem gefällt mir besser als das in Deutschland, aber nach 2 Wochen hatte ich die Nase ziemlich voll von der Schuluniform. Wenn ich könnte, würde ich die Schule hier weiter besuchen und meinen Schulabschluss hier machen. Die Lehrer bemühen sich an meiner Schule mehr, und die Klausuren sind besser gestaltet. Momentan sitze ich an meinen GCSEs, den Abschlussprüfungen, für die ich nicht viel, aber etwas lerne. Die Prioritäten der Schulfächer sind hier sehr anders: Ich finde die Naturwissenschaften, Geschichte, performing arts und Literatur werden unglaublich gefördert, während aber Mathe und Sprachen eher schwächer sind. In Deutschland war ich durchschnittlich in Mathe, hier bin ich unter den Top 5 Schülern der Stufe… dafür musste ich aber etwas mehr arbeiten mit Shakespeare und Literatur, obwohl mir das in Deutschland eigentlich sehr lag.
Hobbys
Mein hauptsächliches Hobby hier ist Tennis, ich trainiere mehrmals die Woche und habe Matches mit dem Team. Diese Woche habe ich im Tenniscamp ausgeholfen, was mir total Spaß gemacht hat… wenn du ein Hobby hast, das du auch hier ausführen möchtest, und du dich wirklich bemühst es zu finden, wird das möglich sein, versprochen! Während der Winterzeit habe ich ein Fitnessstudio besucht, aber mittlerweile laufe ich eher im Freien. Das Wetter ist genauso wie in Deutschland, momentan ist es heiß. Ansonsten bin ich während der Wochenenden meistens in der Stadt mit meinen besten Freundinnen oder gehe zur Kirche mit anderen Freunden. Meine Gasteltern unternehmen fast nichts mit uns weil beide arbeiten, aber das ist für mich persönlich okay, da ich immer volles Programm habe.
Ein lachendes und ein weinendes Auge
Um ehrlich zu sein, vermisse ich keinen richtig, noch nicht einmal meine Familie, ich weiß einfach, dass alle dort drüben gesund und glücklich sind, und bald bin ich doch schon wieder zu Hause! Klar, während des Jahres sind sehr selten einige Tränen des Heimwehs gekullert, aber das ist normal, und am nächsten Tag wacht man auf, hoffend für immer hier bleiben zu können.
Ich fliege nächsten Monat schon wieder nach Hause, aber trotzdem fühlt es sich einerseits so an, als ob ich erst vor zwei Wochen auf dem Flughafen rumgesprintet bin mit der Angst, meinen Flug verpasst zu haben. Andererseits gibt es den Spruch „Not a year in a life, but a life in a year“, was auch zu 100 Prozent zutrifft… wenn ich an einige Momente meines Austauschjahres zurückdenke, fühle ich wie sich etwas Warmes in meinem Bauch ausbreitet. Momente, die perfekt waren, wo ich gelebt habe.
Ich habe mich verändert
Zusammengefasst denke ich, dass mich dieses Austauschjahr bereits jetzt sehr verändert hat, Dinge wie meinen Musikgeschmack, Kleidergeschmack oder mein Selbstvertrauen erkenne ich nicht mehr wieder, und statt Zahnmedizin steht jetzt sogar vielleicht Sportmedizin später an - meine Prioritäten haben sich total verändert.
Ein Auge weint, wenn ich daran denke bald wieder zu Hause zu sein, das andere lacht, weil es doch immer Zuhause am schönsten ist oder? Kleiner Tipp: Du kannst ein Austauschjahr in England, Nordkorea oder bei Oma Heide machen, aber das Endresultat ist immer dasselbe: Liebe zu neuen Menschen, Orten, Momenten, und dir selbst. Man kann mehrere Heimaten haben.
Eure Anna (die britischen Tee übrigens abscheulich findet)