Drei Monate, drei Wochen und sechs Tage habe ich bereits in Finnland verbracht.
"Na, wie geht´s dir so?", ist die typische Frage, die ich von Freunden und Verwandten aus Deutschland höre. Aber genau wie in Deutschland hat mein Leben hier im Land der tausend Seen Höhen und Tiefen. Tage an denen ich daran denken muss, was wohl meine daheimgebliebene Familie gerade macht, Tage an denen es mir einfach nur gut geht und ich mich richtig integriert fühle.
So ländlich wie ich im Moment hier wohne, habe ich selbst in meinen ersten vier Lebensjahren im Hunsrück nicht gewohnt. Gerade einmal siebenhundert Menschen wohnen in Mellilä, eines der kleineren Dörfer in Südwest-Finnland. Die nächstgrößere "Stadt" ist zwölf Kilometer entfernt und hat knapp über zehntausend Einwohner. Außer einer Grundschule und einem Supermarkt, der sich wirklich auf das Allernötigste beschränkt, gibt es hier nur einen Bankautomaten. Weitläufige Felder, Wiesen und Wald umkreisen unser Dorf. Gemeinsam mit meinen beiden Gasteltern, der jüngsten meiner Gastschwestern und meinen beiden Gastbrüdern, zu denen ich gerade im letzten Monat eine wirklich gute Beziehung aufgebaut habe, erlebe ich hier den finnischen Alltag. Nicht selten kommen am Wochenende dann meine beiden älteren Gastschwestern und hin und wieder auch mein ältester Gastbruder nach Hause.
Komplett integriert
Nachdem ich Anfang August mit einer Herzlichkeit, die kaum zu übertreffen war, in meiner achtköpfigen Gastfamilie empfangen wurde, hat sich das ein gutes Stück gelegt. Ich werde nicht mehr als Gast und auch nicht als etwas Besonderes behandelt, worüber ich wirklich sehr froh bin. Und gerade das hat es mir auch erleichtert, dass ich mich hier wohlfühle und bis jetzt keinen einzigen Tag hatte, an dem ich wirklich Heimweh gehabt hätte. Alle gehen mit mir um wie mit meinen Gastgeschwistern auch. Meine Erwartung, dass in einer Familie mit so vielen Kindern jeder seine Pflichten zu erfüllen hat, hat sich bestätigt. Das abendliche Rausgehen mit dem Hund, das Sortieren der Wäsche und das Staubsaugen sind zur absoluten Gewohnheit geworden. Natürlich war ich anfänglich sehr gespannt wie das gesamte Familienleben in Finnland aussieht.
„Aivan normaali" = Ganz normal
Der wohl größte Unterschied zwischen einer deutschen und einer finnischen Familie ist die Selbstständigkeit der Kinder. Es ist vollkommen normal, dass mein zwölfjähriger Gastbruder größtmögliche Freiräume hat, solange er sich an alle Regeln hält. Kochen, Waschen und die Haustiere zu versorgen sind Dinge, die er seit er acht ist, schon machen muss. Meine Gasteltern legen großen Wert darauf, dass ich mich an Vereinbarungen halte und die mir gegebenen Aufgaben gewissenhaft erledige. Unser Wochenleben bestreitet eigentlich jeder für sich selbst. Wenn ich morgens aufstehe, sind meine beiden Gasteltern schon längst zur Arbeit aufgebrochen und kommen meistens nach sechs Uhr abends nach Hause. Ein stressiger Alltag, den wir in der Woche haben, zumal meine Gastbrüder und ich auch zu unseren Hobbies gefahren werden möchten, was ab und zu meine Gastschwester oder sogar ihr Freund übernehmen. Ein komplettes Kontrastprogramm bietet sich uns allen allerdings am Wochenende. So genießen wir wirklich die gemeinsame Zeit und unternehmen zusammen etwas. Nicht selten, vor allem jetzt im Winter, fahren wir zu Eishockeyspielen von Profiteams oder auch zu denen von meinem Gastbruder, erledigen einige Aufgaben zu Hause und den allwöchentlichen riesigen Samstagseinkauf. Am Abend ist es dann endlich soweit, die Sauna wird aufgeheizt. Auf dieses Ereignis freue ich mich die ganze Woche lang und vermisse es, wenn ich samstag abends einmal nicht zu Hause bin. Sonntags wird großen Wert auf das gemeinsame Mittagessen gelegt, das meistens aus selbst geräuchertem Fisch besteht. Ein weiterer bedeutender Unterschied zwischen den beiden Kulturen sind die Essgewohnheiten. Nicht etwa in der Art der Lebensmittel, vielmehr in der Menge der täglichen Mahlzeiten. "Aivan normaali" (ganz normal), war die Antwort meines Gastbruder auf meine Frage, ob es jeden Tag so sei, dass wir vier große Mahlzeiten essen.
Mein Schulalltag
Jeden Tag fahre ich gemeinsam mit meinem vierzehnjährigen Gastbruder und meiner Gastschwester über dreißig Minuten zur Schule. Meistens nutze ich diese Zeit zu einem kleinen, aber erholsamen Schläfchen, ab und zu natürlich auch, um mir noch einmal die für den Tag zu lernenden Vokabeln anzusehen. Bis vor ungefähr einem Monat habe ich nicht verstanden, warum selbst die besten Freundinnen im Schulbus nicht zusammen sitzen. Mittlerweile weiß ich aber, dass es keineswegs ein Zeichen von Unfreundlichkeit ist, jeder Finne braucht nur seinen eigenen Raum. Unterhalten kann man sich trotzdem. Trotz der von mir erwarteten Distanz, die ich eher als leichte Schüchternheit interpretiert habe, haben meine Mitschülerinnen und Mitschüler den drei anderen Austauschschülern und mir eine große Offenheit entgegengebracht. Sie fragten uns regelrecht aus: wie das Familienleben in Deutschland so ist, ob die Vorurteile über das fußballverrückte Volk wirklich stimmen, und ob Deutschland wirklich so ein "Gesetzes-Wald" sei.
Das finnische Schulsystem hat so gut wie nichts mit dem herkömmlichen System in Deutschland zu tun. Unser Schuljahr ist in sechs Perioden unterteilt. In jeder habe ich andere Kurse, die ich frei wählen darf. Am Ende eines jeden ungefähr sechswöchigen Schulabschnittes steht eine Prüfungswoche, in der täglich in einem anderen Fach eine dreistündige Arbeit geschrieben wird. Auch die Beziehung und der Umgang zwischen Lehrern und Schülern sind wesentlich lockerer, was vielleicht daher kommt, dass wir die Lehrer mit Vornamen ansprechen. Bei allen Dingen, die im Schulleben so passieren, werden auch wir Austauschschüler mit einbezogen. Da habe ich mich sehr gefreut, dass ich sogar in der Schülervertretung sein darf. Die finnische Schule ist genauso wunderbar wie anstrengend. Wie ich oben schon beschrieben habe, besteht mein Leben während der Woche überwiegend aus Schule. Daher beginnen die meisten Hobbys von meinen Gastgeschwistern und mir erst in den frühen Abendstunden.
Freizeitaktivitäten
Seit Ende August bin ich nun im Leichtathletikverein und total überrascht, wie sportbegeistert das finnische Volk ist. Überhaupt werden Finnen nochmal ein gutes Stück offener, wenn sie eine gemeinsame Freizeitaktivität haben. Und mein Lauftraining ist bei dieser Naturlandschaft noch besser, als ich es mir vorgestellt habe. Überhaupt ist es faszinierend zwischen den Feldern zu laufen und am Waldrand zwei gemütlich grasende Elche zu beobachten, die nicht selten in den Morgenstunden auch mal dem Schulbus die Fahrt für einige Minuten unterbrechen. Kann die Natur noch schöner sein? Ja, kann sie. Ende Oktober hatten wir dann den ersten Schnee. Selbst meine Fotos können die wärmenden Sonnenstrahlen, die zwischen den Birken hervorgucken, nicht so darstellen wie ich es hier erlebe. Und wie wunderbar eine Tasse Kaffee und das typische finnische Hefegebäck „Pulla" sein kann, weiß ich erst, seitdem ich die Gewohnheit habe, mindestens alle zwei Wochen eine mehrstündige Wanderung gemeinsam mit unserem Berner-Sennen Hund zu machen, dem ich einfach alles anvertrauen kann, was mich bewegt oder worüber ich so nachdenke. Bevor ich aber mit dem Hund aufbrechen durfte, hat mein Gastvater mir alle wichtigen finnischen Begriffe beigebracht, damit der Hund auch das macht, was ich vom ihm will. Mittlerweile kann ich sie alle, ganz anders aber bei dem Versuch einer Unterhaltung mit einem Mitschüler oder einem meiner Gastgeschwister. Finnisch ist schwer, sehr schwer. Meine Gastfamilie bemüht sich aber so viel Finnisch wie möglich mit mir zu sprechen, was, wie ich glaube, ganz gut funktioniert, denn ich verstehe wesentlich mehr, als ich auf etwaige Fragen antworten könnte. Auch die Treffen mit den anderen Austauschschülern von YFU, bei denen wir uns einen ganzen Tag in verschiedenen Gruppen mit dem Finnischen beschäftigen, sind super, um neue Lernmethoden auszutauschen. Für mich haben sich das Aufhängen von Zetteln und das mit meinem Gastbruder gemeinsame Lesen von „Aku Ankka", der finnischen Version von Donald Duck, als sehr hilfreich bewiesen.
Nach den ersten drei Monaten hier in Finnland und einer Zeit, in der sich meine Gastfamilie und ich uns immer besser kennengelernt haben, ist mittlerweile wirklich die Zeit, in der ich das Gefühl habe, dass ich hier lebe und angekommen bin. Das wurde mir erst letztes Wochenende klar, als ich nach einem herrlichen Wochenende in einem Sporthotel mit meinen Mitschülern nach Hause kam und das richtige „Ich-bin-zu-Hause-Gefühl" hatte.