Ich habe mich, seit ich hier in Brasilien bin, immer wieder gewundert, wieso mein Auslandsjahr nicht so toll ist wie das von anderen Austauschschülern. Weder voller Abenteuer, noch so verrückt oder aufregend wie es von anderen beschrieben wird. Keine Reisen nach Rio de Janeiro oder São Paulo und keine extravaganten Feiern. Nun, da es sich dem Ende zuneigt, habe ich endlich herausgefunden, warum: Ich mache inzwischen überhaupt kein Auslandsjahr mehr, sondern ich lebe hier. Ich habe mir ein ganz normales Leben aufgebaut, bis zu dem Punkt, dass wenn ich im portugiesisch Unterricht ein Wort nicht verstehe, mich mein Banknachbar ansieht und ungläubig fragt, ob ich dumm wäre, nur um 5 Sekunden später zu realisieren: „Ah stimmt, ich vergesse immer, dass du nicht von hier bist“. Und nun weiß ich auch, dass dies keineswegs schlechter ist, als ein Abenteuer-Auslandsjahr erlebt zu haben.
In diesen achteinhalb Monaten habe ich mich so sehr an den Lebensstil hier gewöhnt, dass es mir schon komisch vorkommt, die deutsche Sprache zu verwenden, wenn ich mit Freunden oder meiner deutschen Familie skype. Ich werde es definitiv vermissen, jeden Tag neben mir irgendwen auf Portugiesisch rumschreien zu hören. Auch der so lebendige und laute Schulunterricht wird mir bestimmt sehr fehlen, auch wenn er zu Beginn äußerst anstrengend war. Am meisten werde ich jedoch „sentir saudades“ von meiner Gastfamilie. „Saudades“ steht für das nostalgische Gefühl, etwas Geliebtes verloren zu haben und die Sehnsucht nach dem Verlorenen niemals stillen zu können, da es wohl nicht wiederkehren wird. Es könnte annähernd wohl mit „sanfte Melancholie“, „Wehmut“ oder „Weltschmerz“ übersetzt werden. Nur im portugiesischen existiert dieses Wort.
Meine Gastfamilie besteht aus meiner Mutter Claudete, meinem Vater Luis und meinen beiden Gastschwester Nicole (16) und Lauren (14). Zusammen leben wir in einer kleineren Stadt in der Nähe von Porto Alegre, im südlichsten Bundesland von Brasilien: Rio Grande do Sul. Am Anfang war ich überglücklich so weit im Süden zu sein, da dies bedeutet im Sommer nicht von der Sonne gegrillt zu werden, doch leider habe ich mich hier zu früh gefreut. Im Sommer hat es trotzdem bis zu 45 Grad und im Winter gehen die Temperaturen dafür runter auf 10 Grad. Und diese kommen mir auf einmal tausendmal kälter vor als in Deutschland, sodass ich am Ende mit fünf Schichten Kleidung am Körper herumlaufe.
In den Sommerferien oder an einem „feriadão“ (z.B. verlängertes Wochenende oder eine Reihe von Feiertagen hintereinander) sind wir oft zu unserem Strandhaus gefahren, was für mich jedes Mal ein schönes Erlebnis war. Das erste Mal waren wir bei 15 Grad schwimmen, weil ich einfach nicht auf den Sommer warten konnte, schließlich war ich jetzt in Brasilien. Am besten sind jedoch die riesigen Familientreffen, meistens an Weihnachten oder Silvester. Ich habe wirklich noch nie so eine große Familie gesehen und jeder einzelne von ihnen, egal ob Großtante oder Cousin zweiten Grades, hat mich unglaublich herzlich aufgenommen und mich von Anfang an wie ein Familienmitglied behandelt. Dies weist auf die freundlichen und offenen Charakterzüge der Brasilianer zurück. Jeder möchte mit dir reden, selbst wenn du kein Wort verstehst und sie nichts Anderes in Englisch können als ordinäre Schimpfwörter. Am Ende wird einfach zusammen gelacht, gegessen, gefeiert und umarmt. Dies war sicherlich ein Grund, dass ich die Sprache so schnell gelernt habe.
Wie ich in Deutschland etwa ein „Bayer“ bin, bin ich hier „Gaúcho“ geworden. Ich habe eine wundervolle zweite Familie gefunden und unglaublich interessante und liebenswerte Freunde dazu gewonnen. Austauschschüler zu sein bedeutet, dass Teile von dir überall auf der Welt verstreut werden und du kannst nur hoffen, dass sie eines Tages alle wieder zusammenfinden werden.