1966/67 hat Charles Hamilton aus Michigan, USA als YFU-Austauschschüler ein Jahr in Deutschland verbracht. Seitdem ist der YFU und auch Deutschland verbunden geblieben und hat im Mai eine Reise über den Atlantik unter anderem dafür genutzt, sich mit seinem Gastbruder in Köln zu treffen. Im YFU-Blog berichtet er von seinem Besuch und erinnert sich an sein Austauschjahr, das seinen weiteren Lebensweg maßgeblich geprägt hat.
Lieber Charles, was hat dich und deine Frau in diesem Jahr nach Deutschland geführt?
Meine Reise nach Deutschland war zunächst als eine Reise für meine Frau Eileen und mich gedacht, um mehrere Städte und Orte in Deutschland zu besuchen, so viele Orgelkonzerte und Musikaufführungen in Kathedralen und Kirchen wie möglich zu hören und schließlich meinen ehemaligen Gastbruder Kaspar Kraemer und seine Frau Sybil in Köln zu besuchen. Als ich erfuhr, dass das Kalamazoo College eine Deutschlandreise für seine Alumni und Freunde anbot, von denen viele wie ich ein Semester an einer deutschen Universität studiert hatten, habe ich uns schnell angemeldet. Mir gefiel die Idee, Zeit mit anderen in meinem Alter auf einer geführten Tour zu verbringen und zu Beginn meiner Reise trotzdem Kaspar und seine Frau besuchen zu können.
Das war bei Weitem nicht dein erster Besuch in Deutschland: 1966/67 hast du hier ein Jahr als YFU-Austauschschüler verbracht. Was hat dich als Teenager zu diesem großen Schritt motiviert?
Meine Motivation war, die deutsche Kultur zu erleben und die deutsche Sprache durch das Leben bei einer Gastfamilie und den Schulbesuch fließend zu sprechen. Ich hatte bereits ein Interesse an allem Deutschen entwickelt, nachdem ich drei Jahre lang Deutsch in der High School in Flint, Michigan, gelernt und im Sommer 1965 über den Steiermärkischen Waldschutzverband in Graz mehrere Wochen auf Bauernhöfen in der Steiermark gearbeitet hatte.
Nach ein paar Wochen in Goslar bist du zu Familie Kraemer nach Braunschweig gezogen, die dich für den Rest deines Aufenthalts aufgenommen hat. Erzähle uns doch bitte ein wenig über deine Gastfamilie.
Meine Gastfamilie, die Kraemers in Braunschweig, bestand aus Herrn Professor Dr. Friedrich Wilhelm Kraemer, von seinen Kindern und mir "Pumpum" genannt, seiner Frau Inge, von uns allen "Mammi" genannt, den Söhnen Kaspar und Matthias und den Töchtern Annette und Sabine, sowie einer Köchin und Haushälterin namens Elsbeth und einem Gärtner, Handwerker und Fahrer namens Herder.
Die Familie war für mich besonders, da sie sehr intelligent und kulturell sowie international orientiert war. Pumpum war neben seiner Tätigkeit als Leiter der Architekturfakultät der Technischen Hochschule Braunschweig zu der Zeit einer der bekanntesten und produktivsten Architekten Deutschlands. Er hatte als Offizier während des Zweiten Weltkriegs eine schwere Kopfverletzung an der russischen Front überlebt. Da er nie der NSDAP beigetreten war, erhielt er bald nach Kriegsende von den Briten eine Lizenz zum Weiterbauen. Zu seinen vielen Werken gehörte unter anderem der Wiederaufbau zahlreicher beschädigter historischer Gebäude.
Kaspar wurde ebenfalls Architekt und hat viele Bauwerke in Deutschland errichtet, darunter zum Beispiel den unterirdischen Eingang des Kölner Doms. Er war zudem mehrere Jahre Präsident des Bundes Deutscher Architektinnen und Architekten. Er lebt mit seiner Frau Sybil in Köln. Ihre Tochter Luise hat kürzlich ihr Studium in München abgeschlossen, um ebenfalls Architektin zu werden.
In den 1960er Jahren hatten die Kraemers bereits Englischkenntnisse auf mehreren Reisen in die Vereinigten Staaten und nach England erworben; außerdem hatte die älteste Tochter Annette noch vor mir als YFU-Schülerin ein Jahr in Ann Arbor, Michigan verbracht. Während ich hoffte, in ihrer Mitte mehr und besseres Deutsch zu lernen, hofften sie, von mir mehr Englischkenntnisse zu erlangen.
Seid ihr nach deinem Austauschjahr die ganze Zeit in Kontakt geblieben?
Wir sind in Kontakt geblieben, hauptsächlich durch den Austausch von Weihnachtskarten und Briefen sowie kurzen Besuchen von Kaspar und seinem Bruder Matthias in Boston um 1980 und einem Besuch von mir und meiner Frau Eileen in Köln im Jahr 2007, wo wir Kaspar und Annette getroffen haben.
Wenn du auf dein Austauschjahr zurückblickst: Woran erinnerst du dich am liebsten?
Meine liebste Erinnerung an diese Zeit war das gemeinsame "Brotbrechen" am frühen Nachmittag, das normalerweise von allen besucht wurde, und die üblichen späten Nachmittags-Tees, die bei Mammi sehr beliebt waren. Dies waren wichtige Zeiten, um sich miteinander auszutauschen.
Ich erinnere mich auch daran, wie ich mich im Klavierzimmer im unteren Stockwerk ihres Hauses durch Improvisationen am Klavier ausdrückte. Die Kraemers bezahlten für mich Klavierunterricht bei einem bekannten lokalen Pianisten und Lehrer. Ich erinnere mich auch an das Gefühl der Freiheit, als ich bei jedem Wetter mit dem Fahrrad zum und vom Wilhelm-Gymnasium und zu anderen Veranstaltungen fahren konnte.
Wir sagen oft, dass ein Austauschjahr lebensverändernde wirken kann: Würdest du dem zustimmen?
Ich war nach einem Jahr bei den Kraemers für immer verändert. Ich fühlte mich selbstbewusster, weltgewandter. Mir waren die Schwierigkeiten der zwischenmenschlichen und interkulturellen Kommunikation bewusster und auch die Bedeutung von Geben und Nehmen in der Familie. Ich war beeindruckt von der Strenge des Unterrichts und der Prüfungen am Wilhelm-Gymnasium, das ich in Braunschweig besuchte. Ich ging mit dem intensiven Wunsch nach Hause, die bestmögliche Bildung für mich zu erlangen, einschließlich einer internationalen Dimension.
Du unterstützt YFU Deutschland immer noch regelmäßig und wir sind dir sehr dankbar für deinen anhaltenden Beitrag, der vielen Schüler*innen weltweit Türen öffnet. Was motiviert dich, die Mission von YFU nach all den Jahren zu stärken?
Ich erinnere mich besonders an die Unterstützung und den Rat, den ich damals vom deutschen YFU-Leiter in Hamburg, Ulrich Zahlten, erhielt, nachdem ich am Anfang bei der ersten Familie in Goslar gestrauchelt war. In gewisser Weise fühle ich mich, als würde ich Ulrich für alles danken, was er für mich getan hat und wofür er damals stand. Grundsätzlich glaube ich aber auch fest an die Mission des Deutschen Youth For Understanding Komitees als Schritt in die richtige Richtung, junge Menschen zusammenzubringen und Brücken des Vertrauens und Verständnisses zu bauen.
Hast du einen Rat an zukünftige Austauschschüler*innen oder auch Schüler*innen, die noch darüber nachdenken, ins Ausland zu gehen?
Die Risiken und Belohnungen eines Austauschjahres sind natürlich für jeden Schüler unterschiedlich, aber das Lernen über sich selbst innerhalb des Kokons einer Gastfamilie und einer anderen Kultur ist eine wirklich einzigartige Erfahrung und für die meisten Schüler eine bereichernde und lebensverändernde, wie sie es für mich war.
Bevor sich junge Menschen jedoch entscheiden, Austauschschüler zu werden, sollten sie sich ernsthaft Gedanken darüber machen und verstehen, welches Geschenk ihre Gastfamilie und YFU ihnen bieten. Es wird ein Geben und Nehmen sein, aber letztlich liegt die Anpassungslast beim Schüler, nicht bei der Familie. Schließlich hat die Gastfamilie mit ihrer Anmeldung schon hat einen großen Vertrauensvorschuss gegeben und zugestimmt, das eigene Zuhause für eine lange Zeit mit einem zunächst noch fremden jungen Menschen zu teilen.
Als du Deutschland dieses Jahr wieder besucht hast, hast du die Gelegenheit genutzt, viele Orte und Städte im ganzen Land zu sehen - einschließlich eines Besuchs in der KZ-Gedenkstätte Dachau.
Ich hatte ein besonderes Interesse an einem Besuch in Dachau, da ich 1974 in Boston ein guter Freund eines Dachau-Überlebenden, Steven Ross, geworden bin. Steven wurde 1931 in eine große Familie in Polen geboren. 1940 wurde er beim Spionieren für den polnischen Widerstand in Krasnik von den Nazis gefangen genommen und überlebte das Leben in Konzentrationslagern - darunter Budzyn, Radom, Auschwitz, Bietigheim, Vaihingen, Unter-Rixingen, Neckarsulm und Dachau. Am 29. April 1945 wurde er von einem Mitglied des 191. Panzerbataillons der US 7. Armee gerettet. Er kam 1948 als Waise in die Vereinigten Staaten.
Eine meiner Erkenntnisse von meiner Reise nach Deutschland in diesem Jahr ist ein besseres Verständnis dafür, wie Hitler an die Macht gekommen ist und wie schwierig es für die Deutschen war, etwas dagegen zu unternehmen, sobald seine Schreckensherrschaft begann. Ich habe das Gefühl, dass wir in gewisser Weise eine ähnliche Situation in den USA mit Donald Trump und seinem Streben nach Macht erleben. Trump hat sich mit reaktionären Kräften verbündet, die sich gegen die kulturellen und Menschenrechtsfortschritte stellen, die in den 1930er Jahren mit Präsident Roosevelts New Deal und Sozialreformen begannen und sich allmählich zur Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen in den 1960er Jahren unter der Führung von Dr. Martin Luther King Jr. entwickelten, sowie zur Frauenrechtsbewegung kurz danach.
Ich hoffe aufrichtig, dass die Mehrheit meiner Mitbürger bei den kommenden Wahlen im November erkennt, dass es mehr gibt, was uns eint, als was uns trennt. Hass und Ausgrenzung können niemals der richtige Weg sein. Die Mission von YFU, Brücken des Verständnisses und des Vertrauens zu bauen, ist in der heutigen zunehmend voneinander abhängigen und immer gefährlicheren und konfliktbeladenen Welt wichtiger denn je.
Lieber Charles, vielen Dank für das Gespräch und für deine lange Unterstützung von YFU Deutschland!
Aus dem Englischen übersetzt von Corinna Schmidt, YFU.