YFU verbindet Menschen - und manchmal entstehen dabei Geschichten, die über Familienbande und internationale Freundschaften hinausgehen. Als KD Wolff - Verleger, Protagonist der 68er-Bewegung und ehemaliger YFU-Austauschschüler - 2023 den YFU (Gast)Vater Dietegen Müller traf, entstand daraus sogar eine Autobiographie, die über ein bewegtes Leben in einer bewegten Zeit berichtet. Wir haben mit beiden über ihr dieses Jahr erschienene Buch gesprochen, über ihre Verbindung zu YFU und warum es sich unbedingt lohnt, durch Austausch weiter Begegnung möglich zu machen.
Lieber KD, du hast 1959/60 mit YFU ein Austauschjahr in den USA verbracht: Wie kam es dazu?
In meiner Schule war ein Aushang, auf den ich mich bewarb. YFU verschickte solche Plakate an alle Gymnasien, für ganz Hessen gab es aber nur zehn Austauschplätze. Aus meiner Klasse meldete sich fast die Hälfte der Schülerinnen und Schüler an, doch zum Auswahlinterview im Amerikahaus in Marburg wurden von meinem Gymnasium nur wenige eingeladen, aber darunter ich! Meine Eltern hatten mir erlaubt, teilzunehmen, weil sie überzeugt waren, ich würde es nicht schaffen. In gewisser Weise mein Glück - aber als ich die Zusage bekam, waren sie stolz auf mich. Damals bezahlte die Entsendefamilie 120 Mark pro Monat an YFU, das war wohl so viel, wie meine Eltern auch für mich zu Hause ausgeben mussten. Ich dachte, damit wäre alles bezahlt, stellte aber fest, dass meine Gastfamilie in Michigan für meine Unterkunft gar kein Geld bekam. In meinem Austauschjahr telefonierte ich übrigens nur zwei bis dreimal mit meinen Eltern. Dafür schrieb ich jede Woche einen Brief.
Dabei hast du auch die YFU-Gründerin Rachel Andresen erlebt: Was sind deine Erinnerungen an sie?
Rachel erlebte ich als aufgeschlossen und interessiert. Ich lernte sie auf der Überfahrt nach Amerika kennen. Sie leitete die Vorbereitungsgruppen, an denen wir täglich auf dem Schiff teilnahmen. Wir wurden so auf den Austausch vorbereitet. Zuvor hatten wir ein Wochenendseminar mit den deutschen Betreuern gemacht, in der Jugendherberge in Mainz. Unsere Betreuer waren vielleicht drei bis vier Jahre älter als wir, aber schon in den USA gewesen. Rachel war neugierig, wer da so alles war. Der Verein hieß damals noch Youth for Understanding - Michigang Council of Churches. Ich wusste nicht genau, welche Rolle die Kirche spielen würde. Meine Betreuer meinten, da habe die Kirche nicht mehr viel mit zu tun. Zwei Jahre später fiel auch in der offiziellen Bezeichnung von YFU der Verweis auf den Council weg. Rachel hatte sich dafür eingesetzt, das Austauschprogramm von den kirchlichen Ursprüngen zu lösen; in gewisser Weise erfand sie YFU.
Die Überfahrt mit dem Dampfer war ein Erlebnis: Erst stiegen die Deutschen auf‘s Schiff, dann kamen einen Hafen weiter die Holländer an Bord, dann die Franzosen und später die Briten und Iren, bis wir endlich über den Atlantik übersetzten, was sechs Tage dauerte. Wir landeten in Montreal und fuhren mit dem Greyhound-Bus erst in die Universitätsstadt Ann Arbour, wo übrigens auch Rachel studiert hatte. Als ich dann bei meinen Gasteltern angekommen war, fragte mich mein Gastvater, der Allgemeinarzt war, als erstes, ob ich gegen Polio geimpft sei, und impfte mich gleich. Das war in der Zeit, als der Rotary Club, der die Austauschschülerinnen und Austauschschüler betreute, auch Polio-Impfkampagnen in der ganzen Welt organisierte.
Wie hat das Austauschjahr dein späteres Leben geprägt?
An vielen Stellen. Ich habe mich etwa getraut, ein Haus zu kaufen, ohne das Geld dafür zu haben. Ich war da ganz amerikanisch bereit, ins Risiko zu gehen. Ich glaube, auch den Mut zu haben, auch mal zu scheitern und dann wieder aufzustehen und weiterzumachen, wie ich es in meinem Verlag erlebt habe, hat etwas mit meiner Zeit in den USA zu tun. Ohne mein Austauschjahr hätte ich auch nie so viel über die amerikanische Bürgerrechtsbewegung erfahren. Ich wusste damals nicht, dass die USA noch ein ziemliches Apartheidsland waren. Die Bürgerrechtspropaganda mit ihrem zumeist gewaltlosen Widerstand gegen Diskriminierung übte große Faszination auf mich aus.
Überraschend war für mich, wie tolerant meine Gasteltern waren, obwohl sie politisch sehr konservativ waren. Und dies, obwohl ich mich als „Socialist“ bezeichnete, was ein Schimpfwort war. Einmal fuhren wir nach Nordmichigan in ihr Ferienhaus, wo ich ein kleines Motorboot benutzen durfte. Mein Gastvater hatte mir zuvor genau erklärt, wo ich hinfahren kann und wo nicht, doch es lief schief. Plötzlich tat es einen Schlag und die Schiffsschraube war gebrochen. Als ich davon erzählte, lachte mein Gastvater nur und meinte, er hätte doch gesagt, ich solle aufpassen. Statt dass ein Donnerwetter einsetzte, gingen wir in die Stadt, kauften eine Ersatzschraube, montierten sie und das war es dann. Diese Art der Toleranz kannte ich aus Deutschland nicht und sie beeindruckte mich sehr. Zugleich war mir aber auf einer politischen Ebene klar, dass nun die Zeit reif war, dass die Apartheid gestürzt wird.
Meine Faszination für die USA blieb davon unberührt. Ja, ich kehrte 1969 in die Staaten zurück und berichtete über meine Erfahrungen, die ich in der Studentenrevolte in Deutschland gesammelt hatte. Als verdächtiger Radikaler wurde ich sogar als erster Deutscher seit Bertolt Brecht für ein Hearing des US-Senats vorgeladen, in dem ich sehr kämpferisch gegen das Apartheitssystem argumentierte. Das sorgte auch in Deutschland für Schlagzeilen. Danach durfte ich Jahrzehnte nicht mehr einreisen, aber ich bin den USA stets sehr verbunden geblieben. Und umso mehr freute ich mich, als Barack Obama die Wahl zum US-Präsidenten im November 2008 annahm - da hatten Bürgerrechtsaktivisten wie Jesse Jackson Tränen in den Augen.
In diesem Jahr hast du viele Stationen deines bewegten Lebens in deiner Autobiographie „Bin ich nicht ein Hans im Glück?“ festgehalten – unterstützt von Dietegen Müller. Auch bei dieser Begegnung hat YFU eine Rolle gespielt: Wie habt ihr euch kennengelernt?
Wir haben uns über meine Tochter Jenny kennengelernt, die ihrerseits 1993/94 mit YFU in den USA war. Als sie sich für YFU entschied, wusste sie gar nicht, dass ich mit dieser Organisation auch schon in den USA war. Jenny betreute eine Austauschschülerin aus Istanbul, Nehir, die ab Sommer 2021 ein Jahr lang bei Dietegen und seiner Familie wohnte, als seine älteste Tochter mit YFU in den USA war – übrigens bei einer Gastfamilie, die wiederum Dietegens Frau Claudia von ihrem YFU-Austausch kannte. Irgendwann im Dezember 2022 kam Jenny dann zu mir und sagte, Dietegen interessiere sich für die Verlagsgeschichte und mein Leben. Da sagte ich, er müsse mal zu Besuch kommen. Das erste Mal trafen wir uns dann auf der Feier zu meinem achtzigsten Geburtstag im Literaturarchiv der Universität Frankfurt.
Ihr habt gemeinsam viel Zeit und Herzblut in dieses Buch gesteckt, das auf unterhaltsame Weise nicht nur über ein bewegtes Leben, sondern auch über bewegte Zeiten berichtet. Was hat dich für dieses Projekt motiviert, lieber Dietegen?
Verschiedene Dinge. Auf einer Gartenparty, zu der uns Jenny im Sommer 2022 eingeladen hatte, fiel mir vor dem Haus ein Schild mit der Aufschrift „Stroemfeld Verlag“ auf. Ich musste googeln - und fand rasch heraus, dass der Vorgängerverlag „Roter Stern“ auf Wikipedia in den Siebzigerjahren laut Magazin „Spiegel“ als „Kaderschmiede des Linksterrorismus“ beschrieben wurde. Plötzlich gefiel mir die Party deutlich weniger. Als ich aber im Treppenhaus Jennys Mutter begegnete, wir ins Gespräch kamen und ich erfuhr, dass sie familiäre Beziehungen zu Basel hatte – meiner Geburtsstadt – und als ich später lernte, dass der Stroemfeld Verlag die historisch-kritische Edition des Werks des Schweizer Schriftstellers Gottfried Keller verlegt hatte, begann es in mir zu arbeiten. Mein Vorname ist einer Novelle Kellers entlehnt, das konnte kein Zufall sein.
Mir war klar: Hier trafen jüngere deutsche Literatur-, Germanistik- und Zeitgeschichte in einer einzigartigen Weise zusammentrafen, die viele Fragen aufwarf, auch zu dunklen Seiten der westdeutschen Geschichte, und die unbedingt erzählt werden musste. Nach meiner ersten intuitiv ablehnenden Reaktion dachte ich verrückterweise irgendwann, gute Voraussetzungen mitzubringen, um diese Geschichte einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Als Wirtschaftsjournalist hatte ich früher viele Interviews zu komplizierten Themen geführt. Im Dezember 2023 schrieb ich Jenny – und wenige Monate später begann ich mit den Interviews mit KD. Lustigerweise erfuhr ich erst dann, dass KD seit 25 Jahren seine Autobiografie schreiben wollte. Es war also höchste Zeit, und tatsächlich hatten wir - auch dank viel Unterstützung von verschiedener Seite – im Sommer 2025 ein druckreifes Buch!
Ihr beide seid YFU schon lange verbunden und eure Austauscherfahrungen – als Teilnehmender wie auch als (Gast)Vater – haben euer Leben in vielerlei Hinsicht geprägt: Wo liegt eurer Meinung nach der größte Wert von Austausch – und warum sollten junge Menschen auch heute noch das Abenteuer wagen und als Austauschschüler*in die Welt entdecken?
Vielleicht ist gerade diese Begegnung – und auch unsere Lebens- und Familiengeschichte – beispielhaft. Wir hätten uns ohne YFU wohl nie kennengelernt, oder nie derartige Kontakte gefunden, aus denen dann etwas Neues, Größeres entstehen konnte. Dazu muss man nicht mal unbedingt weit reisen: Als Gastfamilie kommt auch die Welt nach Hause, was eine beglückende Erfahrung ist. So lassen sich Lebensweisen und Perspektiven erfahren, wie es virtuell nie möglich ist. Anfangs ist man vielleicht enttäuscht, aus einer deutschen Kleinstadt gleich wieder in eine Kleinstadt in den Staaten zu kommen. Doch gerade an einem solchen Ort lassen sich die USA ausgezeichnet kennenlernen, weil das dortige Leben so typisch ist. Es tut auch gut, auf diese Weise etwas Abstand zur eigenen Familie zu bekommen und selbstständiger zu werden.
Wir denken: Wer einen Austausch macht, lernt fürs Leben. Ist es nicht besser, den Anderen in seiner Andersartigkeit zu erkennen und mit ihm zu sprechen, anstatt sich zu bekämpfen? Das heißt nicht, die Meinung des Gegenübers zu teilen. Aber gerade Wiedersprüche sind zutiefst menschlich. Diese Erfahrung selbst machen zu dürften hat einen unschätzbaren Wert – und manchmal ergeben sich ja sogar auch neue Freundschaften daraus.