icon_meereskunde icon_outdoor-education icon_landwirtschaft_neu

YFU-Blog

Aktuelles aus Verein und Austauschwelt

Austauschschülerin zu sein war das ganz große Los.

22. Dezember 2021

Likki-Lee Pitzen ist Expertin für Energiepolitik, Entwicklungsfinanzierung und Klimaschutz und arbeitet nach mehreren beruflichen Stationen im Ausland beim Auswärtigen Amt als Referentin für Energieaußenpolitik und Dekarbonisierung. In ihrem Interview mit YFU verrät sie, wie sie ihr YFU-Austauschjahr 2005/06 in China auf dem Weg dorthin geprägt hat.

 

Liebe Likki, wie bist du damals auf die Idee gekommen, ein Austauschjahr in China zu verbringen?

Es war wohl eine Mischung aus Pragmatismus, Neugier und Trotz – wenn ich auch nicht sagen kann, zu welchen Anteilen. Pragmatismus, da ich damals auf die Erfahrung neugierig war in der Menge abtauchen zu können. Also mir zu einer ganz anderen Gesellschaft Zugang zu suchen und dann einfach in einem Meer schwarzhaariger Köpfe mitzutreiben.

Neugier, da Anfang der 2000er die Drachen, Pagoden und andere gängige China-Symbole auf den Titelseiten der seriösen Printmedien deutlich zunahmen. Inhaltlich widmeten sich die Artikel durchweg der wachsenden Wirtschaft. Ich wusste also, dass es wirklich viele Fabriken geben musste, aber von den Menschen und dem alltäglichen Leben hatte ich kaum eine Vorstellung. (Und als ich dann auch noch „Tiger and Dragon“, gesehen hatte, wollte ich ohnehin direkt aufs Pferd und durch die Taklamakan-Wüste reiten). 

Der Trotz in mir war dann wohl der entscheidende Auslöser: mein damaliger Erdkunde-Lehrer, der auch in einem Herrenchor sang, wollte es nicht dabei belassen uns Bevölkerungspyramiden aus China zu zeigen, und erzählte daher was er auf seinen Chorreisen nach China erlebt hatte. Genauer gesagt, was er aus dem Reisebus entlang der Straßen gesehen hatte. Kommunismus und Plumpsklos – so gab er zu verstehen – hatten ihn gezeichnet. Mir schien es absurd, dass die Raststätten-Stopps eines Hamburger Herrenchors das Chinabild einer ganzen Klasse prägen sollten. Und so verfestigte sich in diesem Moment meine bis dahin lose Neugier zu einem handfesten Plan, China selbst zu erkunden.

 

Wie sehr hat dieses Jahr Einfluss auf deinen beruflichen Werdegang gehabt?

Da gibt es soziologisch sicher gute Theorien, die alle direkt zutreffen. Austauschschülerin zu sein per se war schon das ganz große Los. Allein durch die Vor- und Nachbereitung des Austauschjahres habe ich Menschen getroffen und Einsichten erfahren, die mir eine ganz andere Welt der Möglichkeiten gezeigt haben. Durch ehrenamtliche Aktivitäten bei YFU nach meiner Rückkehr kam ich später auch mit dem wunderbaren JDZB (Japanisch-Deutsches Zentrum Berlin) in Kontakt und konnte an einem Austauschprogramm mit anderen Ehrenamtlichen in Tokyo teilnehmen. Andere Länder, Systeme und Kulturen zu erkunden war seit China viel greifbarer (der deutschen Stipendienlandschaft sei Dank) und erschien gar nicht mehr so kompliziert. Dazu kommt dann noch das Jahr selbst: egal in welches Land man geht, sieht man sich wohl immer auch ein wenig als „Gandalf der Weiße“ aus seinem Gastland bzw. Gastleben zurückkommen. Das Jahr bei meinen drei einzigartigen Gastfamilien und der 11. Klasse an der Beijing No.15 Middle School hatte mich jedenfalls aufmerksamer und probierfreudiger zurück in die Wildnis entlassen. All dies hat die weitere Reise nach dem Jahr so erst möglich gemacht.

  

Erlebst du manchmal noch Situationen in deinem Arbeitsalltag, in denen du von deinen Erfahrungen als Austauschschülerin profitierst?

In der Vorbereitung hatten wir als 15-Jährige ja gelernt, dass wir alle als Botschafter Deutschlands ins Ausland gehen würden. Insofern hat sich für mich im Auswärtigen Dienst ja nun der Kreis geschlossen. Aber Spaß beiseite: Bevor ich z.B. Delegationen aus dem Ausland treffe, hilft es, mir das Treffen vorab aus Sicht der anderen Seite vorzustellen, um Interessen besser begegnen zu können. Dieser Perspektivwechsel, der sich nicht nur bei der Arbeit empfiehlt, ist ja das Basic Tool im Werkzeugkoffer eines Austauschschülers, den man prall gefüllt am Ende des Jahres mit nach Hause nimmt. Der absolute „Hammer“ in diesem Koffer ist in meinen Augen die Fähigkeit, Gewohnheiten immer wieder neu zu erlernen: Als Austauschschülerin hatte ich ein Jahr lang alles - Tagesabläufe, Umgangsformen, Waschmaschinenprogramme – neu erlernt. In meinem heutigen Job kommt es auf diese Fähigkeit an. Geopolitik ist non-linear – das sieht man aktuell z.B. an den hohen Brennstoffpreisen, auf welche Staaten weltweit unterschiedlich reagieren und zugleich dennoch versuchen, international einheitliche Lösungsansätze zu erzielen. In meinem Arbeitsalltag gibt die Arbeit also wenig Alltäglichkeit her. Und entsprechend hilft es daher eine grundsätzliche Offenheit zu bewahren und bereit zu sein, mich immer wieder – wie im Austauschjahr – auf neue Prozesse und Strukturen einzustellen.

 

Gibt es einen Moment aus deinem Austauschjahr, an den du dich heute besonders gern erinnerst?

Es würde mir leichter fallen 10 oder eher 100 zu nennen, anstatt mich auf einen festzulegen. Jedes Mal, wenn ich irgendwo Popmusik aus der Zeit höre oder singe (Jay Chou, Wang Leehom und ja, auch die Songs (!) von Jackie Chan), denke ich zurück an meine Klassenkameraden, Gastgeschwister und Freunde, die mir CDs ausliehen, Lieblingssongs auf meinen MP3 Player spielten und liebevoll auf ausgerissene Collegeblock-Seiten die Liedtexte in Pinyin aufschrieben. Bis heute gebe ich beim Karaoke dankbar diese Songs zum Besten.

 

Du bist für dein Austauschjahr mit einem Vollstipendium aus dem YFU-Stipendienfonds gefördert worden: Was hat diese Förderung damals für dich bedeutet?

Mutti war allein mit uns fünf Kindern: Es hatte finanziell also den Unterschied zwischen Gehen und Nicht-Gehen bedeutet. Es war zudem das erste Mal, dass ich ein Stipendium erhalten hatte. Ideell war es somit das erste Mal, dass mir jemand sagte: „Wir denken, du bist geeignet“. Ein schönes und prägendes Erlebnis. An den erwähnten Erdkundekurs zurückdenkend fühlte ich dazu noch mehr Verantwortung, daheim umfangreich von China zu berichten; und für den Schüleraustausch zu werben. Ganz besonders an meiner Schule, wo auch heute leider kaum jemand ins Auslandsjahr geht. Als Gymnasium mit einem Migrationshintergrund seiner Schüler von über 80 Prozent, das sich durch innovative Bildungskonzepte auszeichnet und erfolgreiche Alumni hervorbringt, sollten sich dabei doch auch dort erstklassige, motivierte Vertreter Deutschlands finden lassen. An Orten wie meiner alten Schule müssen Stipendien daher bekannter werden. Dieses Interview werde ich mir auch gleich zum Anlass nehmen, hierfür wieder aktiver zu werden.

 

Der Klimawandel ist nur ein Beispiel für die aktuellen Herausforderungen unserer Zeit, die nur durch internationale Kooperation zu lösen sind. Welche Rolle kann deiner Meinung nach Jugendaustausch spielen, um junge Menschen auf diese Aufgabe vorzubereiten?

Vor Kurzem sah ich bei Twitter ein unter Freunden weit zirkuliertes Bild von einer braunen Berglandschaft, die von einer einzelnen künstlich beschneiten Skipiste durchzogen war. Die starke Reaktion auf dieses Bild lässt vermuten, dass für viele Menschen hierzulande das graduelle Schrumpfen der Skigebiete einfach der direkteste Berührungspunkt mit der Erderhitzung ist. Das Wissen um die Auswirkungen der Erderhitzung ist natürlich schon lange da, aber deutlich mehr als durch Bilder verhungernder Eisbären verinnerlichen wir diese Bedrohung eben durch direkte Berührungspunkte und Erfahrungen. Der Jugendaustausch ist auch ein Vermittler dieser Erfahrungen, die sich weltweit unterschiedlich äußern. Um es bildhafter zu machen: Das häufigere Auftreten von Hitzewellen und Starkregen kenn ich aus der Heimat. Sandstürme, die einen nur noch mit Maske und Sichtschutz vorankommen lassen, hatte ich erst in Peking kennengelernt. Durch Austausch lernt man die Situation anderer kennen und auf diese Kenntnis kommt es an, wenn man international Maßnahmen gegen den Temperaturanstieg verhandelt.

 

Zu guter Letzt: Hast du einen Tipp, den du angehenden Austauschschüler*innen mit auf den Weg geben würdest?

Gebt der lokalen Musik eine Chance, bringt eure Gedanken und Erlebnisse hin und wieder zu Papier und traut euch im Zweifel zu fragen (Hände und Füße als Hilfsmittel erlaubt).

 

Vielen lieben Dank für das tolle Gespräch, liebe Likki!

Likki-Lee Pitzen während ihres Austauschjahres 2005 in China

Likki-Lee Pitzen während ihres Austauschjahres 2005 in China

Likki mit ihrer Gastfamilie

Likki mit ihrer Gastfamilie

Chinesisch-Sprachkurs im Austauschjahr

Chinesisch-Sprachkurs im Austauschjahr

Mit Freunden beim Tischtennisspiel

Mit Freunden beim Tischtennisspiel

Ehemalige Austauschschülerin in China