Bettina hat 1990/91 ein YFU-Austauschjahr in den Niederlanden verbracht – als eine der ersten Austauschschüler*innen aus Ostdeutschland. Heute ist sie Journalistin und Autorin und pendelt zwischen Amsterdam und Leipzig. Im Interview verrät sie uns, wie ihr Austauschjahr ihr Leben geprägt hat und noch bis heute nachwirkt.
Liebe Bettina, was hat dich als Schülerin motiviert, ein Austauschjahr in den Niederlanden zu verbringen?
Ich habe 1990 - nur ein paar Wochen nach dem Mauerfall – im Radio von YFU gehört und davon, dass man als Schülerin aus der DDR ein Stipendium für ein Austauschprogramm bekommen könnte. Das war natürlich etwas ganz Besonderes und Neues für mich. Ich war 16 und erst zwei Mal in meinem Leben überhaupt im Ausland gewesen, in Vilnius, die Partnerstadt von Erfurt, wo ich damals wohnte. Und nun stand mir die ganze Welt offen und natürlich wollte ich etwas davon sehen. Wobei es mir erst einmal gar nicht so wichtig war, wohin die Reise gehen würde. Hauptsache eine andere, aufregende Welt. Außerdem wollte ich weg vom Chaos, das nach dem Mauerfall im Osten Deutschlands herrschte, wo keiner so genau wusste, wie es weitergehen würde. Also habe ich mich bei YfU beworben und erfahren, dass es ein ganzes Schuljahr sein sollte. Ich brauchte aber nicht lange, um mich auch dafür zu begeistern. Wo genau ich es verbringen würde, war da zwar auch noch nicht klar, aber weil es schon recht spät im Anmeldeprozess war, war die Auswahl nicht mehr sehr groß. Ich konnte wählen zwischen Belgien, den Niederlanden oder Dänemark. Ich wusste über alle drei Länder so gut wie gar nichts, besaß aber eine Schallplatte vom holländischen Liedermacher Herman van Veen, also habe ich mich für die Niederlande entschieden. Im Juni 1990, noch vor der Währungsunion, kam ich mit dem Zug in Amsterdam an. And the rest is history …
Du warst 1990 eine der ersten YFU-Austauschschüler*innen aus Ostdeutschland und warst damit auch eine Art Vorreiterin: Wie hast du das selbst im Austauschjahr empfunden? Hast du die Ereignisse in Deutschland zu dieser Zeit verfolgt?
Wir waren 1990 vier Austauschschülerinnen aus Deutschland, zwei aus dem Westen und zwei aus dem Osten. Alle vier waren wir Teil einer großen YFU-Familie von ca. einhundert Austauschschüler*innen aus der ganzen Welt. Das heißt, ich gehörte das erste Mal in meinem Leben zu einer großen internationalen Gemeinschaft von lauter jungen Leuten und habe gemerkt, dass wir viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede teilten. Wir waren alle aufgeregt, verlegen, vorlaut und brachten unsere Geschichten mit nach Holland. Natürlich bekam ich Fragen über meine Herkunft, aber wirklich wichtig war es nicht. Allerdings war 1990 ein entscheidendes Jahr in der deutschen Geschichte und natürlich habe ich die Ereignisse verfolgt, ich wollte Journalistin werden und alles, was in der Welt passierte, interessierte mich, ganz sicher auch der Umbruch im Osten Deutschlands. Wir konnten in Amsterdam ARD und ZDF empfangen und am 3. Oktober 1990 saß ich weinend vor dem Fernseher, als der Festakt zum Tag der Deutschen Einheit übertragen wurde. Ich war nicht traurig, ich war einfach von der Macht der Geschichte überwältigt. Denn natürlich bedeutete dieser Tag auch, dass ich in ein anderes Land zurückkehren würde als das, das ich einige Monate zuvor verlassen hatte.
Zumindest auf Seiten deiner Gastfamilie, die sich ja ganz bewusst für dich als Gastkind aus der DDR entschieden hat, war die Neugierde groß. Wie hast du das in deinem weiteren Umfeld wie etwa Schule und Nachbarschaft wahrgenommen? Gab es kulturelle Unterschiede, die dir besonders aufgefallen sind?
Wenn die Niederländer mich fragten: „Wo kommst du her?“ und ich sagte: „Deutschland“ (was allein schon etwas gewöhnungsbedürftig für mich war), war oft die nächste Frage: „Ost oder West?“. Einerseits fanden manche Leute die Antwort „Ost“ tatsächlich besser als „West“. Denn die kleine DDR war historisch gesehen für viele Niederländer weniger bedrohlich als der mächtige Nachbar BRD, auch wenn die wirtschaftlichen Verbindungen dorthin immer sehr eng waren. Andererseits erfuhr ich, dass das Bild, das viele Niederländer von der DDR hatten, recht simpel war. Ich wurde gefragt, ob wir genug zu essen gehabt hätten, ob es Radio und Fernsehen gegeben hatte und wie es sich anfühlt, wieder in die Armut zurückkehren zu müssen. Für ein TV-Kinderprogramm über die deutsche Einheit sollte ich am Telefon Fragen beantworten und die erste Frage, die ein kleiner Junge mir stellte, war: „Gibt es jetzt wieder Krieg?“ Ich machte also die Erfahrung, die wohl jeder und jede Austauschschüler*in macht: erst wenn man eine längere Zeit seine Heimat verlässt, wird einem wirklich bewusst, wo man eigentlich herkommt. Der Ruf der Deutschen war in den Niederlanden Anfang der 1990er Jahre noch nicht der allerbeste. Es gab noch viele ältere Menschen, die sich an die Besatzung des Landes von 1940-1945 erinnerten. In meiner Gastschule fanden es einige Leute witzig, mir „Heil Hitler“ hinterher zu rufen. Gleichzeitig war ich in meiner wunderbaren Gastfamilie gut aufgehoben und konnte meine gemischten Gefühle besprechen, einerseits die Scham aus einem „Land der Täter“ zu kommen und andererseits auch ein gewisser Stolz auf das, was die Ostdeutschen im Herbst 1989 geleistet hatten, nämlich mit der ersten friedlichen Revolution in der deutschen Geschichte den Eisernen Vorhang niederzureißen. In meiner Familie war das Interesse am „Osten“ schon immer groß gewesen. Eigentlich hatte sie jemanden „von ganz weit weg“ aufnehmen wollen, aus Japan oder Australien. Aber als sie hörte, dass auch jemand aus der DDR „im Angebot“ war, merkte sie, dass sich das noch „viel weiter weg“ anfühlte und hat sich glücklicherweise für mich entschieden.
Du bist den Niederlanden heute sowohl beruflich wie privat weiterhin eng verbunden: Inwiefern hat dein Austauschjahr dabei eine Rolle gespielt?
Mein Austauschjahr war mit vielen guten und prägenden Erfahrungen verbunden. Vor allem meine Gastfamilie, mit der ich noch heute in engem Kontakt bin, hat dafür gesorgt, dass ich die Niederlande schnell als zweite Heimat empfunden habe, die heute wie selbstverständlich zu meinem Leben gehört. Ich bin immer wieder nach Amsterdam gefahren und meine Gasteltern haben mich in Erfurt besucht. Ich habe auch die Sprache sehr schnell gelernt und viele Bücher auf Niederländisch gelesen. Als ich mich während meines Studiums für einen Erasmus-Austausch entschieden habe, standen wieder die Niederlande zur Wahl und ich habe ein weiteres Jahr dort verbracht, diesmal in Groningen. Später habe ich meine Magisterarbeit in Kulturwissenschaften über Johan Huizinga, einen niederländischen Historiker geschrieben und auch mein erstes Buch „Ein Jahr in Amsterdam. Eine Reise in den Alltag“ handelte von der Stadt, in der ich ein 1990 Schuljahr gelebt habe. Und so gab es immer wieder neue Anknüpfungspunkte, neue Kontakte und schließlich auch die glückliche Begegnung mit einem ganz bestimmten Holländer, die natürlich alle aus der Entscheidung hervorgegangen sind, für ein Austauschjahr mit YFU nicht nach Belgien oder Dänemark zu gehen, sondern in die Niederlande. Übrigens: ich schreibe diese Sätze gerade im IC nach Amsterdam …
Du lebst in Leipzig und Amsterdam, hast beruflich immer wieder in beiden Ländern zu tun und beschäftigst dich unter anderem mit den (literarischen) Beziehungen zwischen Deutschland und den Niederlanden: Gibt es konkrete Dinge, die du während deines Austauschjahres gelernt hast, auf die du heute noch in deinem (beruflichen) Alltag zurückgreifst?
Natürlich ist es vor allem die Sprache, auf die ich mittlerweile täglich zurückgreife. Nicht nur privat, sondern auch beruflich. Ich bin Autorin und Journalistin und kann alles, was in den Niederlanden passiert, aus erster Hand verfolgen, Zeitungen und Bücher lesen, mit Menschen sprechen. Das habe ich schon häufig für Berichte und Gespräche im deutschen Radio genutzt. Außerdem bin ich eine der Hosts von „Kopje Koffie. Der niederländisch-flämische Bücherpodcast“, wo ich Schriftsteller*innen aus den Niederlanden und Flandern interviewe und wenn ihr Deutsch nicht gut genug ist, sprechen wir Niederländisch. Zur Leipziger Buchmesse 2024 war ich eine der beiden Kuratorinnen des Gastlandprogrammes „Alles außer flach“, das die Niederlande und Flandern gemeinsam ausgerichtet haben. Aber natürlich lernt man während eines Austauschjahres nicht nur die Sprache, sondern auch den Alltag und die Kultur des Gastlandes kennen. Ich weiß mittlerweile sehr genau, wie die Niederländer „ticken“, ich habe ein besonderes Verständnis für ihre Eigenheiten und fühle mich da durchaus als Vermittlerin zwischen den Kulturen. Denn auch wenn Deutschland und die Niederlande Nachbarn sind und viel gemeinsam haben, gibt es auch Unterschiede, die oft recht subtil daherkommen, aber darüber entscheiden können, ob man sich versteht oder nicht.
Jugendliche starten heute unter ganz anderen Bedingungen in das Austauschjahr – ein Abenteuer ist es aber geblieben: Warum lohnt es sich deiner Meinung nach, ein Schuljahr in einem anderen Land zu verbringen?
Wenn man jung ist, klingt „ein Jahr“ sehr lang und das ist es auch. Aber erst, wenn man wirklich in einem anderen Land lebt und dort nicht nur ein paar Wochen zu Gast ist, entwickelt man ein Gefühl für Dinge, die sich auf den ersten Blick nicht erschließen, hat man Begegnungen mit Menschen, die man sonst nie getroffen hätte, kommt man an Orte, die einem „normalen“ Besucher verschlossen sind. Das muss man natürlich wollen, dafür muss man offen und auch ein bisschen mutig sein. Was aber vielleicht noch wichtiger ist: man begegnet in einem Austauschjahr nicht nur anderen Leuten, sondern vor allem sich selbst. Man verlässt seine Komfortzone, begibt sich in eine Welt, die ungewohnt und anfangs oft auch unbequem ist. Man erfährt, wie es einem damit geht, ob man das aushält, ob man tatsächlich mutig ist oder doch viel mehr Heimweh hat als gedacht. Aus der Ferne sieht plötzlich auch die eigene Heimat, die eigene Familie ganz anders aus und man merkt unverhofft, wer und was einem wirklich wichtig ist. Das alles jedoch unter der Voraussetzung, dass man sich wirklich auf sein Gastland und seine Gastfamilie einlässt. Nicht nur äußerlich, indem man seinen Koffer in einem fremden Zimmer auspackt, sondern auch innerlich. Indem man sein Handy weglegt, das einem permanent an die eigene Welt bindet, und stattdessen das Zimmer verlässt und guckt, was da los ist, ob einen da nicht eine fremde Welt erwartet, die mindestens genauso aufregend ist. Und wenn man Glück hat - so wie ich - macht man Erfahrungen, die einen den Rest des Lebens inspirieren und weiterbringen.