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Weltweiter Jugendaustausch

Diversität als Chance

17. Juli 2024

YFU steht für Vielfalt, Demokratie und Toleranz. Diese Werte liegen der Arbeit von YFU zugrunde – aber werden sie auch im Verein gelebt? Ist YFU eine Organisation, in der sich alle willkommen und gut aufgehoben fühlen? Diese Frage haben sich einige engagierte Ehrenamtliche gestellt, als sie 2020 das „Team Vielfalt“ gegründet haben. Beim YFU-Vorstand und der Geschäftsstellenleitung stieß das Team auf offene Ohren und erhielt schon 2021 auch „offiziell“ den Auftrag, für YFU den Prozess hin zu einer diversitätsorientierten Organisation zu starten.  Unterstützt wird das Team Vielfalt dabei von Nenad Čupić, der YFU als Berater und Coach professionell begleitet (https://nenadcupic.net). Für den Blog haben wir mit Nenad sowie der YFU-Ehrenamtlichen Israa, die sich seit 2020 für das Team Vielfalt engagiert, über ihre Arbeit, ihre Motivation und ihre Wünsche für die YFU-Zukunft gesprochen.

 

Lieber Nenad, du begleitest YFU schon seit einiger Zeit bei dem Prozess einer diversitätsorientieren Organisationsentwicklung. Was kann man sich unter dem Thema vorstellen?

Nenad: Diversitätsorientierte Organisationsentwicklung – ich beziehe mich hier auf den Ansatz der RAA Berlin - zielt darauf ab, die Vielfalt unserer Gesellschaft und die unterschiedlichen Lebenssituationen und -entwürfe in Organisationen abzubilden. Das Hauptziel dabei ist, sowohl Verschiedenheit als auch Gleichberechtigung innerhalb der Organisation zu fördern. Dabei wird ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt: Dieser berücksichtigt die vielfältigen und miteinander verknüpften Dimensionen der Vielfalt sowie deren Veränderlichkeit über die Zeit.

 

Diversitätsorientierte Organisationsentwicklung kann also als ein umfassender und präventiver Prozess verstanden werden, der darauf abzielt, Benachteiligungen von vornherein zu verhindern. Dieser Prozess basiert auf zwei Hauptansätzen: Bei dem Antidiskriminierungsansatz geht es darum, Strukturen in der Organisation zu identifizieren und abzubauen, die Diskriminierung verursachen könnten. Dabei spielen sowohl ethisch-moralische als auch rechtliche Aspekte, wie sie im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) festgelegt sind, eine wichtige Rolle.

 

Daneben gibt es den Lern- und Effektivitätsansatz: Dieser Ansatz sieht die Organisation als eine lernende Struktur, die sich kontinuierlich weiterentwickelt. Der Fokus liegt darauf, die Potenziale der Mitarbeitenden und Organisationsmitglieder zu fördern und ihre vielfältigen Erfahrungen und Kompetenzen zu nutzen. Der gesamte Prozess der diversitätsorientierten Organisationsentwicklung erfordert Ressourcen und häufig auch externe Unterstützung. Führungskräfte spielen eine Schlüsselrolle, indem sie durch ihr Verhalten ein wertschätzendes Arbeitsklima schaffen und gesellschaftlichen Benachteiligungen entgegenwirken.

 

Organisationen sollten flexibel auf die individuellen Bedürfnisse ihrer Mitarbeitenden eingehen, sei es durch flexible Arbeitszeiten oder durch eine geeignete räumliche und technische Ausstattung. Auch die Auswahl und Entwicklung des Personals muss darauf abzielen, Vielfalt auf allen Ebenen zu fördern und zu sichern. Mitarbeitende werden entsprechend fortgebildet, um diversitätssensibel handeln zu können.

 

Die Kommunikation innerhalb der Organisation sollte respektvoll und inklusiv sein, um alle Zielgruppen angemessen anzusprechen. Bei der Entwicklung von Projekten und Dienstleistungen ist es wichtig, von Anfang an die betroffenen Zielgruppen aktiv einzubeziehen, um sicherzustellen, dass ihre Bedürfnisse und Perspektiven berücksichtigt werden. Durch die Integration dieser Ansätze kann eine Organisation nachhaltig und gerecht weiterentwickelt werden, indem sie Diversität ernst nimmt und als Chance für positive Veränderungen versteht.

 

Angestoßen wurde der Prozess von der AG Vielfalt bei YFU, in der du dich, liebe Israa, seit Beginn engagierst: Mit welchem Ziel wurde die AG gegründet – und was motiviert dich für dein Engagement darin?

Israa: Das Team Vielfalt ist 2020 entstanden, als nach dem tragischen Tod von George Floyd die Black Lives Matter-Bewegung auch hier in Deutschland Thema wurde und der Verein sich dazu positioniert hat. Mitten im Verein kam es zu Reaktionen zur Positionierung, wo insbesondere Betroffene sich zu Rassismus und Diskriminierungserfahrungen im Verein geäußert haben. Um wirklich auch Veränderungen in Strukturen erreichen zu können, wurde nach einer professionellen Beratung gesucht, wo wir so auf Nenad aufmerksam wurden. Nach Gesprächen mit dem Vorstand und dem Team Vielfalt um den Auftrag zu klären, sind wir 2021 offiziell in den Prozess gestartet.

 

Der Ursprung für mein Engagement hat was mit meiner eigenen Lebensgeschichte und Erfahrung bei YFU zu tun. Ich bin halb deutsch und halb tunesisch und muslimisch erzogen worden. In meiner Familie bin ich auch die erste und einzige die an der Uni studiert und überhaupt ehrenamtlich engagiert ist, eine Biografie, die bei Ehrenamtlichen in unserem Verein fast gar nicht vertreten ist. Ich habe selbst Diskriminierungserfahrungen (im Verein) gemacht und war oft auch Zeugin davon. Gleichzeitig ist YFU ein Ort für mich geworden, in dem ich mich wohlfühle und viele Gleichgesinnte gefunden habe. Ich möchte, dass für andere Menschen wie mich, YFU auch dieser Ort sein kann. Diesen Ort habe ich insbesondere im Team Vielfalt gefunden. Unsere Zusammenarbeit und Atmosphäre im Team ist von Respekt, gegenseitiger Unterstützung und Aufbauen geprägt. Unser gemeinsamer Motor ist eine Veränderung zum diversitätsorientierten Verein, in dem sich alle Willkommen und gut aufgehoben fühlen.

 

In diesem Jahr hat Nenad einen Sensibilisierungsworkshop für ehren- und hauptamtliche YFU-Mitarbeiter*innen angeboten: Warum braucht es solche Workshops?

Israa: Für mich war der Workshop der erste dieser Art. Mit Diskriminierung kann man sich auf einer rationalen Ebene auseinandersetzen, in dem man Statistiken, Bücher, Podcasts oder Dokumentationen anschaut und liest. Beim Workshop ging es aber eher um die emotionale Ebene von Diskriminierung, untermalt von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Unsere Erkenntnis ist, dass man erst auf dieser Ebene wirklich die Auswirkungen und vor allem die eigene Rolle in den Strukturen erkennen und reflektieren kann, um überhaupt ein Umdenken im eigenen Handeln zu bewirken. Als Haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter*in sind wir in bestimmten Positionen in der wir Verantwortung tragen, insbesondere wenn wir an unsere minderjährige Programmteilnehmende denken, unsere Schutzbefohlene. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Ich habe dieses Jahr ein Mittelseminar geleitet und eine weitere Teamerin und ich haben eine Gesprächsrunde angeboten, in der sich unsere Jugendliche an uns wenden können. Das Angebot wurde positiv angenommen und unsere Teilnehmenden waren so dankbar, dass sie sich mit ihren Diskriminierungserfahrungen an jemanden wenden können, weil sie sich in ihrem Alltag nicht sicher fühlen, sie zu äußern oder auf Ablehnung gestoßen sind. Angebote wie diese sind aktuell oft auf Einzelpersonen zurückzuführen, die das Thema auf dem Schirm haben.

 

YFU versteht sich als Organisation, die sich aktiv für Vielfalt und gegen Diskriminierung einsetzt. Trotzdem stehen wir auf dem Weg hin zu einer diversitätsorientierten Organisation noch am Anfang: Wie passt das für euch zusammen?

Nenad: Es ist ein Zeichen von Stärke und Engagement, sich als Organisation den Herausforderungen der Diversitätsorientierung zu stellen. Der Weg ist lang und erfordert ständige Reflexion und Anpassung. Das Engagement für Vielfalt und gegen Diskriminierung ist ein kontinuierlicher Lernprozess, und YFU zeigt durch seine Initiativen, dass es bereit ist, zu lernen und sich weiterzuentwickeln, um langfristig eine wirklich diverse Organisation zu werden.

 

Israa: Da kann ich Nenad nur zustimmen! Wie passt es trotzdem zusammen? Wir alle sind in einer diskriminierenden Gesellschaft aufgewachsen und wurden natürlich dadurch geprägt. Alles was wir durch die Sozialisation unbewusst gelernt haben, wenden wir in unserer Arbeit an, solange wir nichts gegenteiliges gelernt haben. Bei einer diversitätsorientierten Organisation geht es aber auch darum, dass Strukturen verändert und neu geschaffen werden. Gerade diese Prozesse brauchen echt viel Zeit, Kraft und Unterstützung, insbesondere bei einem Verein in unserer Größe, was wir auch bei uns im Team Vielfalt gemerkt haben.

 

Lieber Nenad, du bist schon seit vielen Jahren als Coach aktiv und unterstützt unter anderem Unternehmen und Einzelpersonen dabei, diversitätssensibel und diskriminierungskritisch zu agieren. Was treibt dich an?

Nenad: Was mich antreibt, hat unter anderem mit meiner eigenen Lebensgeschichte zu tun. Ich bin in einem Land geboren worden, das heute nicht mehr existiert, und bin in ein Land gekommen, das kurz darauf mit einem anderen wiedervereinigt wurde. Auf Grund meiner eigenen Migrations- und Bildungsbiografie, weiß ich aus erster Hand, wie Diskriminierung das Leben erschweren kann und wie wertvoll Menschen sind, die Menschen mit Diskriminierungserfahrungen wahrnehmen, ihre Herausforderungen und Benachteiligung sehen und sie fördern und ermutigen den eigenen Weg zu gehen. Ich habe auch erlebt, wie wichtig Organisationen sind, in denen sich Menschen wohlfühlen und Möglichkeiten bekommen, ihre Ideen, Potenziale und Visionen zu entwickeln und umzusetzen, Fehler zu machen und zu lernen.

 

Aus eigener Erfahrung, weiß ich, wie es sich anfühlt, Schubladenleisten zu kleben, Zeitung austragen und Lastwagen zu be- und entladen, Pommes und Würstchen zu verkaufen, Labormöbeln zusammenzubauen, unzählige Pakete zu packen, auf einer Baustelle zu arbeiten, stundenlang Unterlagen zu sortieren und am Fließband Getriebe zu montieren, um die eigene Familie finanziell zu entlasten und um sich Bildung zu finanzieren. Ich wünschte, ich hätte in meiner Jugend von einer Organisation wie YFU gewusst. Ich wünschte, ich hätte als Teenager ein Stipendium bekommen und wäre inspiriert und bestärkt worden, einen Schüler*innenaustausch im Ausland zu machen und eine weitere Sprache zu lernen. Ich wünschte, ich hätte dadurch neue Perspektiven auf mich, Deutschland, die Welt und vermeintliche Selbstverständlichkeiten gewinnen können.

 

Mich treibt allgemein die Überzeugung an, dass gesellschaftliche Vielfalt ein enormes Potenzial birgt und jede Organisation sowie jedes Individuum davon profitieren kann. Es erfüllt mich, positive Veränderungen zu bewirken und zu einer gerechteren Gesellschaft beizutragen. Die Freude daran, Menschen zu unterstützen, ihre Perspektiven zu erweitern und Diskriminierung abzubauen, motiviert mich.

 

Mich treibt die Erkenntnis an, die Dr. Martin Luther King junior in einer seiner Reden sehr treffend formuliert hat, nämlich dass Macht ohne Liebe rücksichtslos und missbräuchlich ist, und Liebe ohne Macht sentimental und kraftlos. Ich möchte Menschen darin unterstützen, mächtig zu sein, und zwar im Sinne einer Macht, die in ihrer besten Form Liebe ist, die die Forderungen der Gerechtigkeit umsetzt. Denn Gerechtigkeit ist im Sinne Kings in ihrer besten Form Liebe, die alles korrigiert, was der Liebe entgegensteht.

 

Wenn ihr in die Zukunft blickt: Was wünscht ihr YFU auf dem Weg hin zu einer diversitätsorientierten Organisation?

Nenad: Ich wünsche YFU, dass der eingeschlagene Weg konsequent und mit einem offenen Herzen und Geist weiterverfolgt wird. Möge die Organisation stets bereit sein, zu lernen, sich weiterzuentwickeln und sich den Herausforderungen der Diversitätsorientierung zu stellen. Möge der Prozess der diversitätsorientierten Organisationsentwicklung tief in der Kultur verankert werden und nachhaltige Veränderungen hervorbringen. YFU kann ein Vorbild für andere Organisationen sein und zeigen, wie eine diversitätsorientierte Organisation aussehen und agieren kann.

Israa: Ich wünsche uns, dass wir weiterhin mit Offenheit und Interesse an den Prozess rangehen und sich mehr und mehr Unterstützende und Helfer*innen finden. Es wird viel Zeit und Kraft brauchen, bis wir sichtbare Ergebnisse sehen können, aber sie werden sich auszahlen.

 

Vielen Dank für das inspirierende Gespräch und für euer Engagement!

 

 

Nenad Čupić unterstützt als systemischer Berater und Coach Führungskräfte, Teams und Organisationen dabei, zukunftsfähige und Organisationskulturen aufzubauen. Foto: Ann-Kathrin SInger

Nenad Čupić unterstützt als systemischer Berater und Coach Führungskräfte, Teams und Organisationen dabei, zukunftsfähige und Organisationskulturen aufzubauen. Foto: Ann-Kathrin SInger

Von Anfang an im Team Vielfalt dabei: YFU-Ehrenamtliche Israa engagiert sich auf vielen Ebenen für den Verein

Von Anfang an im Team Vielfalt dabei: YFU-Ehrenamtliche Israa engagiert sich auf vielen Ebenen für den Verein

Diversität im Schüleraustausch