YFU-Blog
Aktuelles aus Verein und Austauschwelt
Ein Beitrag von Daniel Kraft: Diese Geschichte beginnt an einem frühen Freitagnachmittag im März 2020. Das eben noch exotische Virus verlässt nicht nur seine Ausgangsregion, sondern immer mehr die Randnotizen der Medien, rückt auf die Startseiten vor, taucht in Europa, taucht in Heinsberg und Mailand, taucht im eigenen Umfeld auf. Und im Windschatten von Klopapierhamsterkäufen und Maskendiskussionen legt es ganze Lebensbereiche lahm.
Darunter einen Bereich, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Menschen durch Austausch einander näher zu bringen: die internationale (Jugend-) Begegnung. Ziel all dieser Aktivitäten ist der Austausch in der unmittelbaren Begegnung, die Vermittlung einer anderen Kultur und der Dialog. Ein Bereich, der oft von diesen kleinen Momenten am Rande lebt; von den informellen Situationen während des Vorbereitungsseminars, den Kaffeepausen auf den Tagungen, vom gemeinsamen Abendessen mit der Gastfamilie, von der Teilnahme am Alltag der Anderen.
Nicht nur im Jugendaustausch, überall werden Veranstaltungen hektisch abgesagt, tausende Autoren, Referierende, Dolmetscherinnen, Studienreise-Guides storniert, Lesungen und Konzerte vertagt, Messestände verschoben und Tagungs- und Literaturhäuser zu Kulissen „heruntergefahren“. Konzerthäuser stehen leer, Dichtung verstummt und Klassenfahrten und Austauschprojekte werden vertagt.
Und während des verzweifelten Versuchs, wieder Normalität, die hier als Synonym zur Analogität, Präsenz oder Publikumsverkehr gedacht wird, staut sich der Fluss auf, wächst zu einem riesigen Stausee an, drückt gegen die Sperre.
Eine riesige Schlammwelle von Kommentaren, Videos, Verschwörungsmythen, antisemitischen Hasstiraden, Telegram-Posts und Fake News rollen tsunamigleich über all die Barrieren, Dämme, Polder, Deiche, Köge, Sperren, Schöpfwerken, Flutschotts und Siele, die in den letzten Jahrzehnten in mühevoller Kleinstarbeit von den Kultur- und Demokratievermittelnden errichtet wurden.
Sicher, die waren schon immer da. Aber wie sehr sich die Schlammschicht vor dem Damm aufgestaut hatte, das war an diesem frühen Freitagnachmittag im März noch nicht abzusehen. Aber in diesem Moment setzte sich diese gigantische Schlammmasse in Bewegung. Während manche „analogen“ Mittler, die Ausgleicher, die Entschleuniger der Begegnung, in Schockstarre verfielen.
Die Verwüstungen dieser ersten Schlammlawine waren verheerend und sie werden unsere Länder und unser Miteinander für lange Zeit prägen.
Aber wo Schlamm und Wasser ist, da kann auch neues Leben entstehen. Bei manchen langsamer, bei anderen sehr schnell, wuchs das Gefühl, dass kulturelle Vermittlung und Dialog nicht zwingend in räumlicher Präsenz erfolgen müssen, dass Begegnung auch trotz Distanz möglich ist. Dass Messen, Lesungen und Vorträge, ja sogar Reisen und interkulturelle Begegnung auch digital ihren Reiz, Sinn und eine Berechtigung haben.
Denn an diesem frühen Freitagnachmittag im März 2020 beginnt zugleich die Geschichte eines Fadens, der bis heute nicht abgerissen ist. Die ersten Ideen werden geboren, ein Zug setzt sich in Bewegung. Klar, es ist kein echter Zug, aus Stahl und mit rotplüschigen Coupés. Es ist ein virtueller Zug. Über 30 Jahre nach den Samtenen Revolutionen startete am 31.8.2020 eine „Studienreise“ entlang der längsten umsteigefreien Eisenbahnstrecke innerhalb der EU. Auf den Schienen des legendären EC 173, dem "Hungaria", ging es von Hamburg über Berlin, Prag und Bratislava bis nach Budapest. Virtuell und per Livestream, 13 Stunden, 44 Minuten am Stück. Und so manch ein Kultur- und Bildungsmittler ist zwischen Ustí und Břeclav zugestiegen. Und am Ende wurde ungarisch gekocht, gegessen und– an virtuellen Tischen – bei Kaltgetränk gequatscht und man war sich erstaunlich nah (www.bpb.de/go-east).
Jetzt frag sich der aufmerksame Lesende dieser Geschichte: Was aber genau bedeutet das für den internationalen Jugendaustausch und was hat das speziell mit ihm zu tun? Sehr viel! Denn der pädagogisch begleitete Jugendaustausch ist ein Beitrag, jene „Leitplanken der Demokratie“ (Levitsky/Ziblatt) stark und resilient zu machen. Auch wenn er nicht die letzten Monate der Corona-Zeit im Blick hatte, so passt hier ein Bild des französischen Philosophen der Geschwindigkeit, Paul Virilio, der sagte: „Die Geschwindigkeit entwirklicht die Welt, entweltet, wenn man das so sagen kann.“ Und internationaler Jugendaustausch holt uns diese Welt ein kleines Stück zurück.
Ein so verstandener internationaler (Jugend-)Austausch ist Demokratiestärkung und politische Bildung „at its best“! Hier lernt man den Perspektivwechsel, hier lernt man Kontroversen auszuhalten und zu bewältigen und man sieht, was möglich ist und wie man Ziele erreichen kann. Grundprinzipien der politischen Bildung seit dem Beutelsbacher Konsens von 1976, Grundprinzipien jedes Schüler- und Jugendaustausches aber auch jeder Studienreise und Begegnung. Ohne die unzähligen Austausche, Begegnungen und Gastjahre der letzten Jahrzehnte wäre der oben beschriebene Dammbruch verheerender gewesen. Internationaler Jugendaustausch ist und bleibt ein Dammbauer gegen die braunen Schlammwellen. Nichts hilft besser gegen Populisten mit vermeintlich einfachen Antworten auf komplizierte Frage als das eigene Erleben und die in der Begegnung entstehenden Empathie für den Anderen. Nirgends lernt man besser, was Ambiguitätstoleranz bedeutet und dass die Floskel „Reisen bildet“ eben keine ist.
Was es neben diesem internationalen Jugendaustausch, der sich als Teil der politischen Bildung versteht, braucht, ist der Glaube an „Digital Experience“. Digitale Elemente als Mehrwert und Ergänzung zum Seminarraum, zum faktischen analogen Austausch, zum perfekten Gastschuljahr und zum schönsten gedruckten Buch. Oder zugespitzter: Das Fazit aus den bisherigen Erfahrungen der Corona-Krise ist, dass die Bedeutung von internationaler Begegnung und der politischen Bildung so wichtig ist wie eh und je. Und beides bedeutet mehr denn je auch digitale Bildung. Sie ermöglicht es uns, auch dann in Verbindung zu bleiben, wenn Busse und Züge nicht bestiegen werden können. Sie ermöglicht es uns auch, über den analogen Austausch hinaus, nicht nur in Kontakt, sondern in einer produktiven Verbindung miteinander zu bleiben. Und sie ist ein echter Mehrwert und nicht eine bloße Kompensation, weil Corona das „Eigentliche“ verhinderte.
Dafür braucht es Mittler, die bereit sind, sich auf dieses Wagnis einzulassen. Es braucht Know How und Ausbildung für alle, die da kommen werden; es braucht Übung und Fortbildung für alle, die schon da sind; und es braucht Leidenschaft für diese Form zu vermitteln – von allen. Es braucht Visionäre des Digitalen, des Hybriden, denen Begegnung, Austausch, Dialog und politische Bildung für eine demokratische Gesellschaft das Wichtigste sind; die sich nicht aufhalten lassen von widrigen Bedingungen. Die sich auch unter Druck dafür einsetzen, den Damm stark und sicher zu bauen und die Spaß und Freude daran haben, die Geschichte vom März 2020 im demokratischen Sinne weiter zu schreiben. Und wo, wenn nicht hier, sollte man sie finden?!
Daniel Kraft (*1973) arbeitet hauptberuflich für die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und ist seit vielen Jahren im internationalen Austausch ehrenamtlich als Mitglied im Vorstand der Brücke/Most-Stiftung zur Förderung der deutsch-tschechischen Zusammenarbeit und Verständigung engagiert.
Foto: Bildkraftwerk/Laurin Schmid