„Ein ganzes Jahr? In Uru-äh-was? Wieso nicht einfach ein bekannteres und näheres Land und liegt das in Afrika? Achso, in Lateinamerika! Aber warte, du kannst doch überhaupt kein Spanisch! Und wirst du deine Freunde und Familie gar nicht vermissen?“ So und so ähnlich sahen oft die Reaktionen aus als ich meinen Freunden und Bekannten endlich stolz kundgeben konnte, dass ich ein Auslandjahr in Uruguay vor mir hatte. Denn volle 11 Monate weit weg von der vertrauten Heimat zu leben ist natürlich nicht etwas, was man einfach mal spontan entscheiden und erleben kann. Nichtsdestotrotz war es für mich schon von vornherein klar, dass ich mal ein Austauschjahr machen wollen würde, da ich einfach die Erfahrung und Herausforderung wagen will in eine komplett neue Kultur einzutauchen und ein neues zu Hause zu schaffen.
Besos für alle
Und nun sitz ich hier – entspannt wie die meisten Leute mit Mate-Tee, einem traditionellen uruguayischen Getränk, in meiner Hand – und kann stolz von mir sagen, dass ich schon mehr als drei Monate diese Kultur der Uruguayos in der Stadt Mercedes als meine eigene aufnehmen darf. Und für mich persönlich könnte ich wirklich nicht in einem besseren Land ein neues Leben aufbauen. Die Gelassenheit, die Freundlichkeit und die typische lateinamerikanische Offenheit, die dieses Land ausstrahlt, sind unglaublich. Obwohl die Uruguayos als die eher „kalten“ Menschen unter den Lateinamerikanern dargestellt werden, merkt man deutlich einen Unterschied zu Deutschland und dies lässt mich verstehen, wieso die deutschen oft als ernst abgestempelt werden. Als ein Beispiel der Offenheit kann man die Besos sehen. Man begrüßt und verabschiedet sich hier immer mit einem Küsschen auf die Wange, manchmal auch gefolgt von einem „¿Todo bien?“ oder „¿Como estas?“ was so viel heißt wie „Alles gut?“ oder „Wie geht’s dir?“ – auch wenn man sich nur ganz kurz auf der Straße begegnet oder sich eher flüchtig kennt. Auch in der Schule zwischen Schülern und Lehrern werden manchmal „besos“ ausgeteilt, und aus meiner Erfahrung heraus ist die Beziehung zwischen Schülern und Lehrern oder sogar dem Direktor sowieso um ein Vielfaches besser und freundschaftlicher als in Deutschland (obwohl es natürlich wie in Deutschland Lehrer gibt, die nicht ganz so beliebt sind). Folglich verteile ich geschätzte hundert „besos“ wenn ich nur kurz durch die Stadt gehe, da ich in meiner eher kleinen Stadt und dank der größeren Tratscherei in Uruguay eine kleine Berühmtheit bin und mich die halbe Stadt kennt. So kommt es, dass mich vor allem in meinen ersten Wochen irgendwelche Leute, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, beim Namen riefen und alles Mögliche über mein Heimatland wissen wollten.
Natürlich beantworte ich diese Fragen so gut wie möglich und klischeebefreiend, denn wirklich viel außer Klischees und Details aus dem Zweiten Weltkrieg weiß man hier genauso wenig wie wir Deutschen über Uruguay wissen – mich da auch nicht ausgenommen. Wenn ich ehrlich bin, wusste ich vor meinem Abreisetag vielleicht nur ein klein wenig mehr über Uruguay als die Allgemeinheit. Ja, nicht mal Spanisch konnte ich. Und mit kein Spanisch meine ich wirklich, dass ich nur solche altbekannten, leichten Wörter wusste wie: „hola, chica, espagñol“. Selbstverständlich hätte ich die Sprache vor meinem Austauschjahr lernen können, jedoch wollte ich die Erfahrung machen, ins kalte Wasser zu springen und in ein Land zu kommen, in der die englische Sprache nicht so weit verbreitet ist. Erstmals hatte ich also wirklich kleine Schwierigkeiten mit der Verständigung, weil vor allem Erwachsene oft kein Stück Englisch können. Durch Hände und Füße habe ich es dann doch meist geschafft, Sachen klar zu machen und kann im Moment nur noch müde belächeln, was ich damals nicht konnte. Denn nun kann ich, zwar mit Grammatikfehlern und manchmal fehlendem Vokabular, oft ohne Probleme reden und das meiste verstehen. Und das nach drei Monaten. Dieses Gefühl, eine Sprache komplett neu zu erlernen und letztendlich zu können, und die kleinen und großen Fortschritte sehen zu können, ist unbeschreiblich und das kann man garantiert nicht durch einen einfachen Kurs erringen.
Das womöglich entspannteste Land der Welt
Und genauso wie Spanisch für mich Alltag geworden ist, ist das Leben in Uruguay mittlerweile Alltag geworden und die Sachen, die für mich am Anfang anders und komisch waren, sind für mich nun normal und selbstverständlich. Dinge, die in Deutschland nicht zu finden sind, sind fest in meinem normalen Tagesablauf integriert und ich werde diese nach meiner Zeit hier sicherlich nicht so schnell aufgeben können. Zum Beispiel gibt es in Uruguay keine drei Mahlzeiten, sondern vier. Da das Abendessen meist erst sehr spät (ab ca. 10 Uhr) gegessen wird, hat man das sogenannten „Merienda“ zwischen Mittag- und Abendessen, bei dem man zum Beispiel typisch uruguayisch Dulce de Leche (sehr süßer Aufstrich, der an Karamell erinnert) mit Brot verspeist. Außerdem macht Mate-Tee einen großen Teil des Alltags aus. Egal, wo man hingeht oder hinschaut, man kann überall die Matebecher in den Händen der Uruguayos finden. Ob beim Relaxen mit den Freunden an der Promenade, bei einem Reisetrip mit der Familie oder auch einfach alleine zu Hause, Mate ist immer dabei. Denn zusammen Mate zu trinken ist ein Zeichen von gesellschaftlichem Zusammenleben, da es meistens einen Mate-Becher in einer Gruppe gibt und dieser immer durchgereicht wird. Mate ist meist nur in Teeläden zu finden, obwohl Mate-"Tee" gar kein wirklicher Tee ist und auch gar nicht danach schmeckt. Eher hat er Ähnlichkeiten mit Kaffee, da er bitter und koffeinhaltig ist. Von dem Koffein im Blut merkt man hier jedoch in der Regel nicht viel, weil Uruguay womöglich das entspannteste Land auf der Welt ist. Die Bevölkerung ist einfach von Grund auf ruhig eingestimmt.
Was vielleicht auch der Grund ist, weshalb der Satz „no te preocupes“, übersetzt „mach dir keine Sorgen“, so oft verwendet wird. Ob man einen Test in der ohnehin schon lockereren Schule verhaut oder aus Versehen ein Glas fallen lässt. Man wird immer diesen Satz hören. So entspannt die Leute in meinem Gastland auch sind, wenn es um Politik geht, wird es jedoch schon hitziger. Das zeigt sich zum Beispiel sehr gut an den momentanen Wahlen die in Uruguay stattfinden. Bei Debatten und Diskussion kann man dabei sehr gut einen Blick auf das südamerikanische Temperament erhaschen, wenn sich die Gegner mal wieder regelrecht anschreien. Ein zentrales Thema ist dabei auch das Bildungssystem. Obwohl die Schule in Uruguay in Vergleich zu manch anderen Staaten in Lateinamerika meist besser wirkt, sorgt sie für Gesprächsstoff. Mein Eindruck von meiner Schule ist bisher aber sehr positiv.
Ein Jahr wird ganz klein
Jetzt heißt es aber erstmal: Ganz lange Ferien und ganz viel Freizeit. Denn die Sommerferien in Uruguay sind etwa doppelt so lang wie in Deutschland, da man in der sommerlichen Hitze niemals in der Schule hocken kann. Sie haben also eine Dauer von drei Monaten! Was man in so einer langen Zeit alles macht? Ganz viel mit Freunden an der Promenade relaxen oder sich am gemeinschaftlichen Pool sonnen und nicht wirklich mehr. Ein einfaches und glückliches Leben. Dazu kann man sich in einem Sportclub einschreiben und so viel Sport machen, wie man will. Einfach die Zeit genießen und ausnutzen. Und das werde ich auch weiterhin versuchen. Meine Zeit hier ausnutzen und jede Sekunde etwas von der neuen Kultur aufnehmen. Ein Jahr scheint zwar viel zu sein, wird aber ganz klein, wenn man in diesem Jahr so viele Erfahrungen und Freunde und sogar eine neue Familie dazu gewinnt. Ein Jahr scheint nicht mehr ein Jahr, wenn man ein neues Zuhause ins Herz schließt und nicht mehr zurück will, weil es einem so gut gefällt. Und ein Austauschjahr bleibt nicht mehr ein Austauschjahr, wenn ein neues Leben in der neuen Heimat begonnen hat.