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Manchmal muss ich mich kneifen

Erfahrungsbericht von Anna, Austauschjahr in Ungarn

Ich lebe in einem kleinen Örtchen namens Pilisborosjenö, das 15 km von Budapest entfernt liegt. Inmitten einer bewaldeten, hügeligen und einfach nur unglaublich schönen Gegend, die geradezu dazu einlädt, lange Spaziergänge zu machen, um die Landschaft etwas zu erkunden. Eine Sache, die ich mir relativ schnell angewöhnt habe, wenn man mal etwas Zeit für sich braucht. Bloß nicht im Zimmer verkriechen, sondern rausgehen, frische Luft schnappen und ein wenig Energie tanken. Wirkt Wunder!

 

Kleine Geschwister sind die besten Sprachlehrer

Meine Familie wohnt in einem relativ großen Haus, einem Rundbau, in dem ich mich von der ersten Sekunde an zu Hause gefühlt habe. Meine Familie ist für mich schon jetzt – nach drei Monaten – wie eine zweite Familie geworden. Ich habe Mutter, Vater, zwei ältere Brüder, 18 und 20, und eine kleine Schwester Janka, die acht ist. Und ich muss sagen, dass Janka für mich der Schlüssel zur Familie war. Ich liebe sie über alles und es ist einfach schön, wenn man jemanden hat, den man nach Herzenslust durchknuddeln, bei den Deutschhausaufgaben helfen und Verstecken im gesamten Haus spielen kann. Man fühlt sich angekommen und das ist ein wahnsinnig tolles Gefühl. Abgesehen davon sind jüngere Geschwister vermutlich die besten Sprachlehrer überhaupt. Da wir uns beide nämlich außer mit Körpersprache nicht wirklich verständigen können, ist sie besonders erpicht darauf, mir die Sprache näherzubringen, indem sie auf Gegenstände zeigt oder mir mit Pantomimen Vokabeln beibringt. Außerdem ist es toll, an ihr meine Sprachkenntnisse auszuprobieren, und sie mich, was meistens der Fall ist, berichtigt und ich so viel Neues dazulernen kann. Zu meinen Brüdern habe ich vielleicht nicht das vollkommen gleiche Verhältnis wie zu Janka, aber auch mit ihnen verstehe ich mich ziemlich gut. Balazs, der ältere der beiden, geht ab diesem Jahr zur Universität, weswegen ich ihn nur am Wochenende sehe, und auch Daniel hat aufgrund von Schule meistens viel zu tun. Aber trotzdem weiß ich, dass die beiden immer ein offenes Ohr für mich haben und dass man sich super mit ihnen unterhalten kann. Meine Eltern, Zsuzsanna und Gábor, sind ebenfalls einfach nur total liebenswert und ich könnte mir momentan keinen besseren Ort zum Leben vorstellen, als genau da, wo ich gerade bin.

 

Verständigung mit Händen und Füßen

Dasselbe gilt für meine Schule. Ich besuche eine Art Sprachschule, weswegen noch einige andere Schüler mit anderen Nationalitäten auf meine Schule gehen, auch wenn die bis zum Abschluss der zwölften Klasse hier bleiben. In meiner Klasse ist zum Beispiel ein Junge aus Russland, der vor einem Jahr hergezogen ist und neben dem ich in Chemie und Physik sitze. Da er kein Englisch, ich kein Russisch und wir beide nicht wirklich ungarisch können, ist es ziemlich lustig, wenn wir dann doch mal versuchen, uns etwas zu sagen.

 

Insgesamt würde ich sagen, dass es langsam, aber stetig vorangeht mit meinen ungarischen Kenntnissen. Natürlich gibt es immer mal wieder Tage, an denen ich so gar keine Lust mehr habe, wenn mir die Grammatik über den Kopf wächst und alle Wörter gleich klingen. Oder wenn ich versuche, etwas zu verstehen, aber mir der Kontext trotzdem nicht begreiflich werden will. Vor allem aber dann, wenn ich etwas nachfrage, eine Antwort bekommt und zufrieden bin, bis der berüchtigte Satz kommt: „Aber das ist nur in diesem Zusammenhang so, wenn du das in einen anderen Satz packst, dann…“ und und und... Ausnahmen über Ausnahmen und ein Haufen von grammatischen Regeln, die leider niemand erklären kann. „Das ist halt einfach so. Warum? Keine Ahnung.“

 

Aber die Lust verliere ich nicht. Ungarisch ist zwar verdammt schwer, aber es ist so eine wunderschöne und melodische Sprache, dass es irgendwann die Mühen wert sein wird. Glücklicherweise bekomme ich seit einigen Wochen in meiner Schule vier Ungarisch-Stunden die Woche, anstatt des normalen Unterrichts, und noch bin ich positiv gestimmt, dass ich das schon irgendwann auf die Reihe kriegen werde. Normalerweise kann ich mich momentan nämlich überall auf Englisch oder sogar Deutsch verständigen. Mein Vater meinte, dass er ziemlich sicher ist, dass in meinem Ort mehr Leute Deutsch als Englisch sprechen können. Und es ist auch immer wieder lustig, wenn man irgendwo ein deutschsprachiges Produkt entdeckt, z.B. der Nagellackentferner einer Klassenkameradin.

 

Per Chipkarte in die Schule

Da meine Schule wie schon erwähnt eine Sprachschule ist, habe ich einen relativ großen Teil meines Unterrichtes in meiner ersten Fremdsprache, was in meinem Fall Englisch ist. Der Rest meiner Klasse hat auch entweder das oder Deutsch oder Russisch.
Komisch war für mich am Anfang die Chipkarte, die allerdings nur für meine Schule typisch ist, die man benötigt, um in die Schule und auch wieder hinaus zu gelangen… und die es verhindert, dass Schüler das Gebäude früher verlassen. Aber daran gewöhnt man sich nach den ersten Wochen. Auch daran, dass man sich schon manchmal ein klitzekleines bisschen wie ein Außenseiter fühlt, wenn die gesamte Klasse über eine lustige Bemerkung oder ähnliches anfängt zu lachen und man nur dasitzt und sich fragt, ob man jetzt auch lachen oder es lieber lassen sollte. Macht man ersteres folgt die Frage „Oh, hast du verstanden, worum es geht?“ nämlich automatisch. Aber insgesamt muss man meine Klasse einfach lieben. Sie sind alle so wahnsinnig lieb und es gibt echt niemanden, den ich irgendwie nicht leiden könnte. Die Ungarn sind unglaublich aufgeschlossene und freundliche Menschen, es herrscht so gut wie immer eine totale Jeder-mag-jeden-Stimmung. Natürlich gibt es manchmal ein bisschen Stress, wenn die Jungs es mit ihren Streichen etwas übertreiben, aber so einen richtigen Streit habe ich bis jetzt noch überhaupt nicht erlebt. Stattdessen versteht sich jeder mit jedem, klar gibt es Leute mit denen man mehr oder halt auch weniger zu tun hat, aber diese klassische Grüppchenbildung, die ich aus meiner deutschen Klasse gewohnt war, gibt es hier nicht.
Aufgenommen wurde ich dementsprechend gut, auch wenn man selbst den ersten Schritt machen muss.

 

Kaffee trinken und Klassenraum streichen

Es war ein seltsames Gefühl am ersten Tag nach den Ferien in einer Klasse voller fremder Leute zu stehen, deren Sprache man nicht spricht und jegliches Selbstvertrauen, von dem man dachte, man besäße es, verpufft mit einem Mal. Es war eine Überwindung, die Schüchternheit abzuwerfen, aber das von einem selbst aus auf die anderen Zugehen war das Entscheidende. Denn wenn mich am Anfang kaum jemand so wirklich beachtet hat, wurde ich kaum, hatte ich mich zu ein paar Mädchen dazugestellt, sofort mit ins Gespräch einbezogen und es wurde Interesse gezeigt. Ich war so unglaublich glücklich, als ich nach dem Unterricht gefragt wurde, ob ich vielleicht mit einen Kaffee trinken gehen möchte und ab da war das Eis gebrochen. Mittlerweile hab ich mich vollkommen eingelebt, bin total im Schultrott angekommen und habe eine Menge guter Freunde gefunden. Das Wort Freundschaft bekommt während eines Auslandsjahres sowieso eine ganz andere Bedeutung. Generell denkt man so viel mehr über Beziehungen nach, darüber, was einem wirklich wichtig ist, und auch über einen selbst. Man sieht nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst in einem ganz anderen Licht. Es ist eine tolle, wenn auch schwierige Erfahrung, wenn man beispielsweise realisiert, was einem an einem selbst stört oder auch worauf man stolz sein kann. Es macht einen selbstbewusster, man setzt sich viel mehr mit diversen Themen auseinander. Man reift daran.

 

Meine schönsten Erfahrungen bis jetzt? Ich glaube, ich könnte sie niemals alle aufzählen, wenn ich mich schon dann so glücklich fühle, wenn ich einfach nur mit einer Freundin an der Donau sitze, genau gegenüber dem Parlament und den Anblick genieße. Wenn ich mich jeden Abend über den ungarischen Kinderkanal freue und jede ungarische Synchronisation feiere, wovon es, nur so als Nebeninfo, eine Menge gibt. Und der erste Moment, in dem man Harry Potter, Barbie oder Nick Fury in Ungarisch reden hört, ist zum Wegschmeißen. Oder auch das gemeinsame Klassenraumstreichen, was so mega witzig und toll war, weil am Ende jeder jeden mit der weißen Farbe angemalt hat und es so ein schönes vereinendes Erlebnis war, dass ich es bestimmt niemals vergessen werde.
Und mein erstes Mal richtiges Heimweh, als mich meine Gastmutter in den Arm genommen hat und mir solange gut zugeredet hat, bis ich mich wieder beruhigt hatte und es in ein Familienkuscheln ausartete. Ich bin im Moment einfach glücklich mit allem wie es ist.

 

In den ersten Wochen hatte ich noch nicht wirklich realisiert, dass ich jetzt tatsächlich ein Jahr hier sein werde und um ehrlich zu sein, muss ich mich jetzt noch manchmal in den Arm kneifen, um festzustellen, nein, das ist kein Traum. Trotzdem fühlt es sich an wie einer, jeden Tag aufs Neue. Und ich kann mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass die Entscheidung, ein Auslandsjahr zu machen, bis jetzt eine der besten meines Lebens war.

Anna mit ihrer kleinen Gastschwester

Anna mit ihrer kleinen Gastschwester

Anna mit Freunden im Café

Anna mit Freunden im Café

Unterwegs mit Freunden

Unterwegs mit Freunden

Traditionelle Kostüme in Ungarn

Traditionelle Kostüme in Ungarn