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Austauschschülerin bei Kanufahrt in Kanada

Kanadische Herzlichkeit und deutsche Planung

Erfahrungsbericht von Martha, Austauschjahr in Kanada

Mein Zuhause für dieses Jahr wurde ein kleines „noch etwas verschlafenes“ (Zitat Reiseführer) Städtchen namens Fredericton in der kanadischen Atlantikprovinz New Brunswick, die sich „hauptsächlich vom Jagen und Fischen ernährt.“ So schlimm ist es aber gar nicht. Die Häuser sind alle aus Holz, relativ klein, alt und kunterbunt und sehen größtenteils wahnsinnig nett aus. Die direkt am Saint John River gelegene Altstadt ist wunderschön, in den zwei Einkaufsstraßen gibt es ein paar Secondhandläden, gemütliche Kaffeestuben, in denen man sich zum Brettspielen oder Töpfern treffen kann, ein Theater, ein winziges Kunsthaus, ein paar Plätze und die „Walking Bridge“, mein absoluter Lieblingsort. Samstags findet der „Farmer´s Market“ statt, wo man von Gemüse über selbstgestrickte Mützen bis zu einem deutschen „Pretzl“ Stand alles findet und einen viel kleineren, aber sehr netten „Cultural Market“.

 

Ich wohne zusammen mit meinen Gasteltern,  meiner türkischen Gastschwester und unserem Kater Jazz etwa 10 Minuten außerhalb der Stadt. Meine Gastmutter ist sehr, sehr lebhaft, ausgelassen und laut, wo sie ist gibt es immer was zu lachen. Sie ist Klavierlehrerin und unterrichtet den ganzen Nachmittag zuhause. Mein Gastvater ist viel ruhiger, aber auch sehr humorvoll und schlau. Er ist seit zwei Jahren pensioniert (hier geht man aber viel früher in den Ruhestand), ist Besitzer eines (ziemlich mickerigen) Gemüsegartens, singt im Chor und spielt viel Pickleball (Mischung aus Tennis und Tischtennis), was der neue Modesport hier ist. Meine Gastschwester und ich sind sehr unterschiedlich, was mich erst ein bisschen geschockt hat, aber wir kommen trotzdem gut miteinander aus. Da meine Gasteltern schon etwas älter sind, sind ihre beiden Kinder schon erwachsen und ausgezogen.

 

Ich wurde wahnsinnig herzlich von meiner Gastfamilie empfangen und habe mich von der ersten Minute an willkommen, akzeptiert und geliebt gefühlt. Zu viert haben wir viel Spaß; wir machen die ein oder anderen Ausflüge, spielen Brettspiele, veranstalten Filmeabende, kochen zusammen und gehen zu Konzerten oder Eishockeyspielen. Es wird viel gelacht und gegessen, sodass wir auf bestem Weg sind, die zehn Kilo, die die letzte Austauschschülerin zugelegt hat, zu toppen!

 

Die Qual der Schulfach-Wahl

Schule in Kanada ist ganz, ganz anders als in Deutschland! Grund dafür ist zum einen das komplett anders aufgebaute Schulsystem: Man hat jeden Tag dieselben fünf Unterrichtsstunden, diese sind aber eine volle Stunde lang. Mit ein paar Richtlinien kann man sich seinen Stundenplan frei wählen, neben den ganzen akademischen Fächern gibt es eine gigantische Auswahl an Fächern, die von allen Arten technischer Kurse, über praktische Kurse (zum Beispiel Robotics, Fashion Design, Cooking, Independent Living, Tourism, Journalism,Theatre Arts, Outdoor Pursuits, Yoga, Oceonography, Law, Sociology, Political Science, Psychology, Mandarin), bis zu den verschiedensten  Kunst-, und Sport- und Musikkursen geht. Fast alle Kurse gibt es in verschiedenen Schwierigkeitsgraden, von Mittelschul- bis Uniniveau.  Die Lehrer sind allgemein viel jünger als ich es aus Deutschland gewohnt bin und sehr, sehr kompetent. Das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern ist sehr freundschaftlich und herzlich, es wird einem das Gefühl gegeben, dass jeder einzelne Schüler wichtig ist und etwas zählt. Dementsprechend herrscht im Unterricht eine respektvolle, produktive und warme Atmosphäre.

 

Allein auf meiner Schule sind wir acht deutschsprachige Austauschschüler, was ein riesen Glück ist. Vor Allem am Anfang war es  unglaublich schön, Freunde gefunden zu haben, die genau das gleiche durchleben wie ich und mit denen ich reden konnte ohne die ganze Zeit gegen eine Sprachbarriere ankämpfen zu müssen. Ganz so einfach ging das mit den Kanadiern anfangs nämlich nicht. Verteilt auf nur vier Jahrgänge (neunte bis zwölfte Klasse) gehen fast 2000 Schüler auf meine Schule, was einfach nur Wahnsinn ist. (Auf meine Schule in Deutschland gehen 850 Schüler verteilt auf acht Jahrgänge!) Ich hatte das Gefühl, dass im Unterricht niemand Lust hatte neue Leute kennenzulernen und feste Sitzpläne haben es meistens unmöglich gemacht, sich neben nett scheinende Leute zu setzen.

 

Leider gibt es an meiner Schule nur eine, sehr ehrgeizige Hockeymannschaft, weswegen mein Traum vom Eishockeyspielen in Kanada schon in den Try-Outs geplatzt ist. Ich spiele aber in der 80-Mann Concert Band und im Drama Club und habe im Musical mitgemacht. Dort habe ich sehr viele tolle Leute kennengelernt und enge Freundschaften geschlossen!

 

Ich habe das Gefühl, dass hier alles etwas langsamer geht als in München und die meisten Menschen mehr Zeit haben. Meine Abschiedsparty in München musste ich zum Beispiel Monate vorher planen, während ich meine Geburtstagsfeier hier am Nachmittag vorher angekündigt habe. Auch wenn ich manchmal meine Münchner Mobilität vermisse, genieße ich es sehr, mit dem gelben Schulbus auf dem Highway durch den Wald zu fahren. Ich liebe die Natur und die Häuser, die Freundlichkeit und Zufriedenheit der Menschen, und die kalten, nebligen Morgen. Ich habe das Gefühl, über kanadische Kultur zu lernen, aber mindestens genauso viel über deutsche. In Deutschland wurde mir nie richtig beigebracht was es heißt, sein Land zu lieben, aber jetzt wo ich weg bin, lerne ich es umso intensiver. Ich lerne viel über mich selbst, vor Allem über Schwächen, die in München unsichtbar waren und mich hier anecken lassen. Was es heißt sich auf eine Reise zu machen, ohne irgendjemanden zu kennen, und sich plötzlich im Stundenwechsel eingequetscht zwischen unbekannten Menschenmassen bewusst zu werden, wie viele Freunde man eigentlich hatte und wie unfassbar wertvoll es ist Menschen um sich zu haben, die man liebt und von denen man geliebt wird. Ich lerne den Moment zu leben und kleine Dinge wertzuschätzen und nach ihnen Ausschau zu halten. Aber obwohl ich so viele schöne Sachen erlebe bleibt mein Blick in den Klassenräumen oft auf der Europakarte hängen und ich sehne mich nach all dem Vertrauten, und manchmal schaue ich in den Spiegel und denke mir: „Was machst du eigentlich hier?“. Aber ich glaube, dass auch das Teil dieses Abenteuers ist. Ich bin unfassbar glücklich und dankbar für all das Schöne, das ich bis jetzt erleben durfte und neugierig auf alles, was vor mir liegt.

Den kanadischen Winter genießen...

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...und den Sommer!

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Martha mit Freundinnen

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Marthas erstes Footballspiel

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Marthas Gastfamilie

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Trip nach Quebec City mit den anderen Austauschschülern

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Indian Summer

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