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Finnen sind auch bloß Menschen

Erfahrungsbericht von Annika, Austauschjahr in Finnland

Ich habe es immer geliebt, ehemaligen Austauschschülern bei ihren Erzählungen zuzuhören. Das Strahlen in ihren Augen und das innere Zurückblicken auf ein Leben, das man mit tausend Worten nicht beschreiben könnte. Ich hatte immer das Gefühl, Austauschschüler würden alles mit einer gewissen Weisheit betrachten. Sei es die Funktion eines ausländischen Kühlschranks oder das Leben an sich. Irgendwie sind sie anders. Sind WIR anders. Nach einigem Zögern habe ich mich vor über zwei Jahren dann selbst dazu entschlossen, eigene Geschichten zu kreieren und eine von ihnen zu werden. Eine von den Kulturtauchern und Völkerverständigern. Und zwar in Finnland (naja – Bauchgefühl eben). Zum Glück!

 

Sicherheitsgurte gibt es überall

Denn sonst wüsste ich heute immer noch nicht, wie man die Strandsauna aufheizt und sie genießen kann. Wie es ist, den echten Weihnachtsmann (in Rovaniemi) zu treffen. Beim Blaubeerensammeln von Mücken gefressen zu werden. Elche, Rentiere und Nordlichter zu beobachten. Einen Finnen dazu zu bringen, mir sein Herz auszuschütten und mit mir zu lachen. Geschockt, überrascht und erfreut zugleich zu werden. Damals, als ich mich für ein Auslandsjahr beworben habe, war ich mir sicher, dass es eine sehr harte Zeit werden würde. Dass ich weinen würde wie noch nie in meinem Leben. Wegen Heimweh, Unverständnis, Einsamkeit oder allem zusammen. Das war auch eigentlich die einzige Erwartung (die sich übrigens nicht erfüllt hat), mit der ich am Flughafen vor beinahe einem Jahr meine Familie verabschiedete und das erste Mal in meinem Leben ein Flugzeug bestieg.

 

Das Flugzeug, das mich aus dem gewohnten Umfeld in mein neues Leben katapultieren sollte. Aber auch im Auslandsjahr gibt es Sicherheitsgurte und Schwimmwesten. Man muss sie nur finden. Und wie im Flugzeug ist es unwahrscheinlich, dass man sie benutzen muss, aber das Gefühl sie zu haben, tut gut. Man ist in seinem Austauschjahr nicht so alleine, wie es sich viele vorstellen. Finnen sind auch bloß Menschen. Und die Gastfamilien waren bei unserer Ankunft bestimmt genauso aufgeregt wie wir.

 

Man muss nicht immer alles verstehen, um damit zu leben

Natürlich gab es für mich vor allem am Anfang viele Momente der Aufregung und des Unverständnisses. Stress, Heimweh und Frustration wegen der Sprache. Und jeden Tag neue Herausforderungen. Am Anfang kann man sich einfach nicht vorstellen, dass man einmal am Ende dieses Jahres und vor dem Abschied stehen wird. Dass dieses Prickeln, das durch die vielen neuen Eindrücke hervorgerufen wurde, einmal nachlassen wird. Dass man sich tatsächlich einen ganz normalen Alltag aufbauen wird, so ganz nebenbei, ohne es richtig zu bemerken.

 

Und plötzlich, vielleicht schon im Oktober, ist die größte Herausforderung des Tages, sich zu entscheiden, ob man Erdbeeren oder Blaubeeren mit dem Haferbrei essen will. Der Rest ist schon Routine. Alltag. Normales Leben. Ich bin nie plötzlich aufgewacht mit einer Erleuchtung über die finnische Kultur. Man muss nicht immer alles verstehen, um damit zu leben. Viele Verhaltensweisen habe ich angenommen, ohne es zu bemerken. Zum Beispiel, dass sich Small Talk komisch anfühlt und Stille gut, oder dass ich pünktlich zum kostenlosen Schulmittagessen um 10:00 Uhr schon Hunger habe (mal ganz davon abgesehen, dass Austauschschüler eigentlich immer Hunger haben ...). Genauso war es mit der Sprache. Viele schrecken vor dem Gedanken an Finnisch schon zurück. Etliche Regeln und Kasusformen. Auch ich hätte nie gedacht, jemals so gut Finnisch zu können. Aber es ist einfach so gekommen und die Sprache ist ein Teil der finnischen Kultur und somit inzwischen auch von mir.

 

Ein neuer Erinnerungsschatz

Jetzt schaue ich auf mein Auslandsjahr zurück. Ob ich ein anderer Mensch bin, weiß ich nicht. Ob ich in diesem Jahr gereift bin und erwachsen geworden, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall schaue ich auf viele besondere Momente zurück. Solche, die ich in Deutschland nicht bekommen hätte. Zum Beispiel mein erster Traum auf Finnisch an Halloween, den großen Schulball oder die ersten Schneeflocken und Nordlichter im September. Aber auch solche, die ich in Deutschland einfach nur nicht wertgeschätzt hätte. Spontanes Lachen mit Familie und Freunden, Schneemann bauen und Pfefferkuchen backen. Vor ein paar Tagen habe ich versucht, die zehn schönsten Momente dieses Jahres aufzulisten. Ich kam auf 26 und habe mich bloß auf das Wesentliche beschränkt. In diesem Jahr habe ich eine Menge erlebt, auch wenn es sich oftmals nicht so angefühlt hat. Aber das Gleiche wäre es daheim auch gewesen. Und dafür – für meinen stinknormalen Alltag, der doch viele versteckte und unterbewusste Überraschungen bereithält, ohne als Abenteuer bezeichnet werden zu müssen – bin ich jetzt sowohl in Finnland als auch in Deutschland total dankbar geworden. Ich habe Dinge erlebt – große und kleine – von denen ich noch meinen Enkelkindern erzählen kann. Tolle Geschichten kann man überall erleben, aber ein Austauschjahr hilft einem dabei, sie zu erkennen. Sei es nun in Kanada, Costa Rica, den USA, Südafrika, China – oder Finnland.