Die Orangen hier sind groß, schrumpelig, graugrün und haben eine dicke, feste Schale. Alles andere als „zum Reinbeißen“. Doch vielleicht war dieser Moment als mein Gastvater mir das erste Mal eine Orange aufgeschnitten hat, der, in dem ich mich in mein Gastland verliebt habe. Ecuador ist wie seine Orangen: Außen mögen sie nicht schön anzuschauen sein, aber sobald man sie auch nur anritzt, wird man von einem überwältigenden Duft überrascht, der in einem Moment den ganzen Raum erfüllt. Ich habe viele Orangen gekostet und es gab wenige, die mich enttäuscht haben. Die Menschen hier kommen auf dich zu, sind interessiert, nehmen dich auf in ihrer Mitte, als hättest du vorher gefehlt.
Ich bin mal wieder auf dem Weg zu meinem Hobby, das ich hier angefangen habe: Taekwondo. Durch das Zentrum laufend muss ich schmunzeln über diese Stadt, die so anders ist als deutsche Städte. An allen Straßenecken sieht man Verkäufer, die kleine Wägen vor sich herschieben und ihre Ware beschreien. Meistens sind das exotische Früchte, die hier so gut wie nichts kosten. Aus jedem Laden, an dem man vorbeigeht, hört man Musik schallen, Reggaeton, Salsa, Bachata... Die Menschen scheinen sich alle zu kennen, man sieht selten jemanden allein.
Auch das Schulleben geht etwas anders zu als in Deutschland: Ich war am ersten Tag noch nicht einmal ins Klassenzimmer eingetreten, als ich schon einen Haufen Fragen von meinen zukünftigen Mitschülern beantworten musste. Auch die Lehrer, die hier wie Freunde behandelt werden, waren sehr offen. Es ist normal, sie mit Vor- oder Spitznamen anzusprechen, freundschaftlich zu umarmen, auch mal spaßeshalber einen Schubser zu geben, wobei die Lehrer oft mit freundlichem Zurückschubsen reagieren.
Auch meine Familie bringt mich oft zum Schmunzeln. Inzwischen weiß ich, dass hier „fünf Minuten“ „eine halbe Stunde“ bedeutet und „morgen“ „in einer Woche“. Wenn wir reisen wollten, wurde das immer einen Tag vorher beschlossen und auch dann konnte es noch sein, dass am nächsten Morgen die Pläne geändert wurden.
Wie die meisten Ecuadorianer ist meine Familie fast immer gut gelaunt, es gibt kein Lächeln, nur Lachen. Und das viel, laut und lange. Es wird alles zusammen gemacht, vom Einkauf bis zum Familienbesuch. Jeden Sonntag fahren wir auf die Finca von meinen Gastgroßeltern, wo sich die ganze Familie meines Gastvaters trifft. Und das sind, da er sechs Geschwister hat, nicht wenige Leute. Wenn dann alle versammelt sind, geht es erst einmal zum Orangen- und Kochbananen-Pflücken. Dann wird für alle gekocht.
Und nun liebe ich dieses Land, trotz all seiner Unordnung, all seinen Schwierigkeiten, denn es hat mir das Herz und die Seele geöffnet, es hat mir wunderschöne Erlebnisse gebracht und mir eine zweite Heimat geschenkt. Es hat mir gezeigt, dass man manchmal kämpfen muss, um ans Ziel zu kommen. Aber je schwieriger der Weg, desto schöner das Ankommen. Das Zu-Hause-Sein. In einem Land, in dem die Orangen etwas anders sind.