icon_meereskunde icon_outdoor-education icon_landwirtschaft_neu

Wo man für „ja“ den Kopf schüttelt

Erfahrungsbericht von Paula, Austauschjahr in Bulgarien

Ich wurde oft gefragt, wie meine Wahl, mein Austauschjahr ausgerechnet in der kleinen Balkanrepublik im Süd-Osten Europas zu verbringen, zustande kam. Doch genauso wie sich Land und Leute nicht mit einem Wort beschreiben lassen, so lässt sich auch meine Entscheidung nicht ganz einfach begründen. Ich weiß nur, dass ich keine Minute der elf Monate bereue, die ich in Bulgarien verbracht habe.

 

Auf dem Weg ins Ungewisse

Als ich am 15. August, scheinbar mitten in der Nacht und verwirrt meinen Weg ins Ungewisse antrat, war ich voller Neugier, ein bisschen theoretischem Halbwissen in Kopf und Gepäck, ein paar gebrochenen Sprachkenntnissen und selbstverständlich aufgeregt und vor Freude kaum mehr zu halten. Meine einzige „Sicherheit" stellte das Flugticket dar, der Reisepass und die Adresse der Gastfamilie, die ich bisher von Fotos kannte. Auch die Bulgaren, die ich kurz vor meiner Abreise kennen gelernt hatte, ließen sich an einer Hand abzählen. Allerdings waren es schöne Bekanntschaften gewesen, ich war also zuversichtlich gestimmt.

 

Armut, Korruption, Kriminalität. Ich war bereit den mitteleuropäischen Klischees und Vorurteilen den Kampf anzusagen und selbst herauszufinden, wie es da, jenseits des ehemaligen „Eisernen Vorhangs", aussieht. Ich habe das Gefühl, das Wort „Republik Bulgarien" löst bei den meisten Deutschen die selbe Assoziation hervor. Nämlich keine. Oder höchstens die obige, die von den sensationsabhängigen Medien geschaffene. Meine ersten Eindrücke waren ganz andere: Empfangen wurde ich  von einer sommerlich-heißen und herzlichen Stimmung, alle Bulgaren, die mich willkommen geheißen haben waren total offen und einfach nur gastfreundlich. Auch existiert von ihrer Seite aus kaum solche Skepsis gegenüber Deutschen als andersherum. Deutschland wird eher als erfolgreiche Wirtschaftsnation bewundert und gelobt. Außerdem sind die Bulgaren internationales Interesse kaum gewohnt und freuen sich riesig über erste Sprechversuche und helfen dann auch wo sie können.

 

Jahrtausende alte Kultur

Wenn man von Deutschland ins südlich gelegen Bulgarien kommt, macht sich der Mentalitäten-Unterschied schon deutlich bemerkbar. Einerseits ist es dort politisch relativ durcheinander und es wird einem einiges von der ungeheuer klaren Staats-/Gesellschaftsordnung und des unvergleichlichen Wohlstands in Deutschland bewusst. Und doch ist dem Land, dem ganzen bulgarischen Volk anzumerken, dass sie fast „Südländer" sind. Spontan, lebensnah und temperamentvoll. Außerdem hält das bulgarische Volk trotz aller Landflucht und Auswanderung der jungen Leute gefühlsmäßig sehr stark zusammen. Eine Kultur, die so alt ist wie die bulgarische (Schätzungen die von 5000 Jahren ausgehen sind untertrieben) und die durch die Zähigkeit ihrer Landsleute auch das 500-jährige türkische Joch überstanden hat, bringt so schnell nichts auseinander! Damit lässt sich auch der gut ausgeprägte Nationalstolz der Bürger des „Landes der Rosen" erklären.

 

Offenheit: Der beste Weg zur "Verbulgarisierung"

Das Jahr über habe ich in Plovdiv gelebt, der zweitgrößten Stadt des Landes, gelegen im zentralen Süden. Die Stadt ist mit ihren 350.000 Einwohnern ähnlich wie meine Heimatstadt Freiburg ruhiger als eine richtige Großstadt und trotzdem voller Möglichkeiten. In Plovdiv ist auch meine Schule, das „Ezikova Gimnaziia = Sprachgymnasium >Plovdiv<". Schule ist in Bulgarien ähnlich wie in Deutschland, allerdings hat man öfter auch mal von mittags bis abends die sechs Stunden, da die Schulen oft so groß sind, dass die Schülerzahl auf zwei Schichten verteilt wird. In den normalen Unterrichtsfächern läuft weniger über Gruppen- und Eigenarbeit als in Deutschland. In Sport dafür sind einige Disziplinen für Deutsche ungewohnt und überraschend, wie z.B. die bulgarischen Volkstänze, die im Kreis getanzt werden. Ich hätte nie gedacht, mich mal für irgendwelche Volkstänze begeistern zu können. Doch Bulgarien hat mich vom Gegenteil überzeugt. Es macht total Spaß! Bulgarische Jugendliche sind vor allem feierlustig, man geht gern zusammen abends weg und wenn es nur ist, um ein bisschen durch den Stadtpark zu laufen, oder irgendwo in einer Kneipe zu sitzen. Nach der Schule geht man oft mit Freunden einen Kaffee trinken (Im Verhältnis zu Deutschland billige Preise laden sowieso viel zu sehr zum Geldausgeben ein). Ich hatte kaum Probleme Freunde zu finden. Die Bulgaren sind eher offene Menschen, freuen sich über ausländisches Interesse. Und wenn man selbst Interesse zeigt, an ihren Aktivitäten teilnimmt und fleißig Leute kennenlernt, steht einer „Verbulgarisierung" kaum mehr etwas im Wege ;). Bulgarisch lernen ist nicht so schwer wie es einem am Anfang scheinen mag. Alles braucht seine Zeit und Muße, aber ich habe es so erlebt, dass der Moment kommt, an dem man ein Gefühl für den neuen Sprachtyp slawisch bekommt. (Ich hatte bis dahin nur romanische Sprachen in der Schule gelernt).

 

Chaotisch, aber nicht gefährlich!

...und dann das mit der Kriminalität... Bulgarien ist sicher chaotischer als Deutschland, aber nicht gefährlich. Genauso wie überall gibt es Orte, an denen ich nicht gerne nachts herumlaufen würde, aber die hat mir meine Gastfamilie natürlich auch gleich in den ersten Tagen gesagt. Es gibt natürlich viel Taschendiebstahl, aber ein „offenes extra Auge" für die Handtasche eignet man sich schnell an. Dank meiner Gastfamilie, die mir so viel wie möglich vom Land zeigen wollte, bin ich auch in Bulgarien herumgereist und war von der Schönheit vieler Orte echt überwältigt: Bulgarien hat beeindruckend schöne Wälder und alte Städte, auch wunderschöne Gebirge und ein paar echte Naturschätze, noch genauso erhalten wie sie schon immer waren. Traditionell ist sowieso viel in Bulgarien. Bei den ganzen verschiedenen Feiertagen und festliche Ereignissen habe ich mich hoffnungslos immer mehr in die Kultur des Landes verliebt und konnte bis zum Schluss auf die verbleibenden Besonderheiten des Jahres neugierig bleiben.

 

Herzlichkeit und Nähe: Die bulgarische Großfamilie

Meine Familie wohnt, wie in Bulgarien üblich, in einer Etage eines „blok" = Hochhauses. Ich erinnere mich, dass gleich am Tag nach meiner Ankunft das erste Familienfest anstand, eine Hochzeit einer Cousine zweiten Grades glaube ich. Es blieb nicht viel Zeit für Umstellungsschwierigkeiten, aber die gab es sowieso nicht, denn meine superliebe Familie hat mich vom ersten Tag an wie „eine von ihnen" aufgenommen und mich richtig fürsorglich behandelt. Mir ist auch aufgefallen, dass man trotz der Dankbarkeit für anfängliche Alltagsunterstützungen der Gasteltern trotzdem froh ist, wenn sich auch das allmählich zur Normalität einspielt und man mehr und mehr die normalen Rechte und auch Pflichten übernimmt, sprich mithelfen muss, aber den Weg zur Post einem halt auch allein zugetraut wird. Die Großfamilie ist in Bulgarien etwas sehr Wichtiges. Man steht sich eher nah, und obwohl die Eltern oft die ganze Woche Vollzeit arbeiten, ist das Eltern-Kind Verhältnis meistens gut und man unternimmt, wenn Zeit ist, gerne Dinge zusammen. Die Verwandtschaft zählt viel, man besucht sich. Die Großeltern, die oft noch auf dem Land leben, Cousins, Tanten, Onkel - bis auf Ausnahmen wohnt in einem Land wie Bulgarien eben keiner weit weg. Ansonsten ist es einfach das ganz normale Zusammenleben und Drama und alles was dazu gehört, wie in den Familien anderer Länder auch. Und ja, es stimmt tatsächlich: die meisten Bulgaren schütteln den Kopf beim „ja"-Sagen und nicken kurz beim „nein"-Sagen.

 

Ein buntes Jahr voller Erlebnisse

Naja... sicher hast du als zukünftiger Austauschschüler schon unzählige dieser Phrasen gehört und gelesen und auch deinen Eltern schon hunderte Male an die Ohren getragen: „Gerade das Lösen unbekannter Probleme und Bewältigung von Situationen wie Missverständnissen und „Kultur-Schocks" o.ä, helfen ungemein zur Charakterbildung, Stärkung des Selbstbewusstseins und geben ein Gefühl der Beherztheit, des Stolzes: ‚Ich schaff' es und zwar alleine'" Und doch ist man ja nie wirklich alleine, denn das Allerschönste an einem Jahr in der Fremde ist, die Fremde in Nähe zu verwandeln, neue Freunde zu finden und sich nicht alleine zu fühlen mit den Konfrontationen des Lebens. Die persönliche Bereicherung und die Freude am Neuen kann niemals einem Jahr daheim gleichgesetzt werden, geschweige denn mit einem normalen „nicht-verpassten" Schuljahr verglichen werden. Wenn ich mir meine Erinnerung zurückrufe und daran denke, wie bunt vor Erlebnissen es war und wie viel Spaß es auch einfach gemacht, hat kann ich es nur jedem der noch an der Entscheidung zweifelt empfehlen, die Herausforderung einzugehen, solche Erfahrungen sind unbezahlbar!

 

Der Traum einer "zweiten Heimat" ist erfüllt

Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war, als der Tag gekommen war, an dem ich meine Gastfamilie treffen sollte, bei der ich 10 Monate leben würde. So wie mich diese Familie aufgenommen hat, das werde ich nie vergessen. Ich fühlte mich von Anfang an total willkommen und so herzlich und unkompliziert aufgenommen, dass ich schon nach kurzer Zeit das Gefühl hatte dort einfach gut aufgehoben zu sein. Heute kann ich wirklich behaupten, dass der Traum einer „zweiten Heimat wo ganz anders" für mich erfüllt worden ist. VIELEN DANK an YFU BG und DE, an die Mitarbeiter, die sich um die Suche nach einer Familie bemüht haben, mir ist inzwischen klar, wie schwer dieses Kunststück in einem Gastland wie Bulgarien ist, und natürlich ganz besonders an meine Gastfamilie, in der ich mich längst nicht mehr wie ein Gast fühle, ihr habt mein Jahr mit Unvergesslichkeit erfüllt!!!

Paula mit ihrer Gastfamilie

Paula mit ihrer Gastfamilie

Paula mit einer Freundin

Paula mit einer Freundin

Ein typisch bulgarischer Volkstanz

Ein typisch bulgarischer Volkstanz

Alexander-Newski-Kathedrale in Bulgarien

Alexander-Newski-Kathedrale in Bulgarien

Felsen von Belogradtschi

Felsen von Belogradtschi