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Meine Lieblingsmomente in Argentinien

Erfahrungsbericht von Loreley, Austauschjahr in Argentinien

Der Gedanke, einen Erfahrungsbericht zu schreiben, war tatsächlich etwas überfordernd. Ich habe das Gefühl, so viel erlebt zu haben, dass ich in zehn Jahren immer noch neue Anekdoten ausgraben werde. Die Zeit war so intensiv, schön und anstrengend zugleich, dass ein paar Seiten Text dem gar nicht gerecht werden können. Hauptsächlich weil ich mir endlich meine Pinterest Pinnwand mit den ganzen inspirierenden Sprüchen zu Herzen genommen habe, und entschlossen war, wirklich jeden Moment zu nutzen, sind diese zehn Monate zu den erlebnisreichsten meines ganzen Lebens geworden. Und viel zu schnell vergangen.

Ich zähle euch hier mal ein paar meiner Lieblingsmomente in Argentinien auf:

 

1. Die "Nige"

Mein Start in die Schule war leider nicht so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte: Ich bin mit einem anderen Austauschschüler aus Italien in dieselbe Klasse gekommen, der schon gut Spanisch konnte. Während es einerseits schön war, jemanden in derselben Situation im Kurs zu haben, hat es schnell dazu geführt, dass ich, weil ich noch nicht so viel geredet habe, mehr oder weniger ignoriert wurde. Während er gleich am ersten Tag schon gefühlt mit allen befreundet war, brauchte ich ein wenig, um meine Freundesgruppe in der Schule zu finden.

Ich möchte nicht verallgemeinern aber ich habe die Argentinier:innen generell als deutlich lauter und extrovertierter wahrgenommen; in Deutschland hätte ich wahrscheinlich nie als schüchtern gegolten, hier aber definitiv. Hinzu kam, dass ich mit den meisten meiner Mitschüler:innen kaum etwas gemein hatte, sodass die meisten meiner Freundschaften außerhalb der Schule entstanden sind. Außerdem – und das war ein kleiner Kulturschock – war es bei mir im Dorf vollkommen normal, wegen aller möglichen Gründe (Regen, Entfall, etc.) einfach gar nicht zur Schule zu gehen, sodass ich die Leute aus der Schule auch nicht wirklich oft sah.

Für die letzten drei Monate habe ich dann die Schule gewechselt: Eine meiner Freundinnen ging nämlich auf eine Kunstschule in Rosario, der Stadt an die Pueblo Esther, mein Dorf, angrenzt. Als ich nach den Ferien dann für die letzten Monate auf diese Schule (die Nigelia Soria oder kurz "Nige") gekommen bin, war die Erfahrung meines zweiten ersten Schultages ganz anders. Alle waren super offen und lieb und interessiert, es gab keine Verständigungsprobleme, weil ich nun bereits fließend Spanisch sprach, die Lehrkräfte waren toll – selbst die Fächer (Keramik, Theater, Fotografie/Film, Volkstanz, Malen etc.). Ich habe wirklich jeden Tag in dieser Schule genossen (bzw. genieße es immer noch, mir bleiben drei Schultage).

 

2. Domingos en familia

Die Sonntage werden in Argentinien bei vielen traditionell mit der Familie verbracht. In meiner Gastfamilie zum Beispiel haben wir oft mit anderen Familien gegrillt (asado), Mate getrunken, sind auf Kunstmärkte/Flohmärkte (ferias) oder andere Events im Dorf gegangen. Bei schlechtem Wetter haben wir oft zusammen gekocht oder Filme geschaut. Es sind irgendwie total simple Dinge, aber die Domingos en familia gehören definitiv zu meinen Lieblingserinnerungen.

 

3. Telas

Dank meiner erfahrenen Gasteltern (ich bin das achte Gastkind) habe ich gleich in der ersten Woche mit allen möglichen Freizeitaktivitäten angefangen, darunter auch acrobacia en telas (Vertikaltuchakrobatik) kurz telas. Mir hat der Gedanke gefallen, etwas zu machen, das in Deutschland vielleicht nicht so üblich ist, ich hätte aber nie erwartet, dass es mir so sehr gefallen würde, dass ich es dann tatsächlich weitermachen möchte.

 

4. Sommerferien

Die Sommerferien hier waren viel länger als in Deutschland (fast 3 Monate) und sind trotzdem unglaublich schnell vergangen. Vor allem wegen der Hitze hat sich mein Alltag total verändert; die Tage waren auf den Abend ausgelegt, ich habe (noch) später gegessen, oft gegen 0:00, und bin dadurch dann morgens später aufgestanden. Meine Ernährung bestand hauptsächlich aus Eiscreme (die wird hier meistens gar nicht in Kugeln sondern in 1/4 1/2 und 1 Kilo verkauft), Salat und anderen kalten Gerichten, sowie tereré (kaltem Mate-Tee). Am Vormittag hatte ich manchmal Aktivitäten (Sport war wenn nur früh am Tag möglich, später wurde es einfach immer zu heiß), am Nachmittag habe ich mich meistens mit Freund:innen beim polideportivo getroffen – eine Mischung aus Freibad und Sportplatz, mit Pool, Fußballtoren und einm Beachvolleyball-Feld. Die Tage waren sich alle ziemlich ähnlich, und sind dadurch irgendwie nahtlos ineinander übergegangen, sodass man schnell den Überblick verloren hatte, ob jetzt Montag oder doch wieder Freitag war - aber genau das hat mir so gefallen.

 

5. Boliches

Feiern ist meines Empfindens nach ein wichtiger Teil der argentinischen Kultur – ob man sich trifft, um ein Fußballspiel oder einen Geburtstag zu zelebrieren, oder ob man auf jodas (Hauspartys) oder Boliches (Nightclubs) geht; die Argentinier:innen wissen definitiv, wie man feiert. (Zumindest die, die ich kennenlernen durfte).

Ich glaube, meine liebsten Teile am Ausgehen waren immer die Previa, also das davor, und das gemeinsame Frühstück danach. Zumindest in meiner Gruppe war es Tradition, gemeinsam facturas (Medialunas und andere Gebäckstücke) zu kaufen und zu frühstücken, wenn man nach Hause ging.

 

6. Mein erster und einziger quince

Ich hatte vor Jahren in einer Galileo Doku etwas über die 15. Geburstage in Mexiko gesehen, die bei den Mädchen groß gefeiert werden, und als ich gehört habe, dass es diese Tradition auch in Argentinien gibt, habe ich mich sehr darauf gefreut zu einem "Quince" eingeladen zu werden - was dann 9. Monate lang nicht passiert ist. Dadurch, dass alle meine Freundinnen eher so um die sechszehn/siebzehn sind, und auch anscheinend niemand eine jüngere Schwester hatte, die zufällig gerade fünfzehn wurde, hat es sich einfach nicht ergeben. Ich hatte mich eigentlich schon damit abgefunden, dieses besondere Erlebnis nicht mehr machen zu können, als eine Freundin mich zwei Wochen vor meinem Abflug dann doch irgendwie spontan auf die Gästeliste der quince einer ihrer Freundinnen schmuggeln konnte. Zu sagen, dass ich deutsche Austauschschülerin bin, noch nie auf einem quince war und in zwei Wochen schon wieder in Deutschland sein würde, hat wahrscheinlich geholfen. Es war die pompöseste Geburtstagsfeier meines Lebens – eigentlich kam es eher einer Hochzeit gleich. Vielleicht mit dem Unterschied, dass die Feier von 21:00 bis 5:00 ging und niemand heiratete. Eine gemietete Location, gefühltes-100-Gänge-Menü, DJ, Fotobox, Fotografin, eine riesige Geburtstagstorte und ein wunderschönes Kleid.

 

7. Das Land

Ich hatte im meinem Auslandsjahr oft das Gefühl, unterbewusst einen Filter über alles zu legen: So ungefähr alles in Argentinien kam mir schöner vor als in Deutschland: Die Natur, die Gebäude, das Sonnenlicht, Regentage, selbst Straßenschilder oder keine Ahnung...Mülltonnen. Ab und zu wurde dieser Filter dann von der Realität durchbrochen; auf dem Weg von Pueblo esther ins beeindruckende Centro von Rosario kommt man an Vierteln vorbei, in denen Menschen in Hütten aus Wellblech und Karton leben, es gibt Kinder, die dich im Café um Geld oder Essen bitten, in den Nachrichten wird nicht selten über Kriminalität oder Gewalt berichtet und im Nachbardorf gibt es einen Fluss der mehr aus Müll als aus Wasser besteht. Ich möchte auch keinen Fall etwas beschönigen. Aber ich bleibe trotzdem dabei: Argentinien ist ein wunderschönes Land. Mal ganz abgesehen von der Warmherzigkeit so vieler Argentinier:innen, ist es geographisch gesehen dadurch, dass es so groß ist, unglaublich vielfältig; ich habe Wasserfälle gesehen, Regenwald, ein rotes Gebirge, Strand, den Atlantik, Gletscher, Pinguine, Wale, Seelöwen, Affen einen Tukan... Und ich bin nach wie vor der Meinung, dass Argentinien das Land mit den schönsten Sonnenuntergängen ist. Natürlich ist es nicht selbstverständlich, so viel im Gastland reisen zu können und ich bin YFU Argentinien und den Möglichkeiten, die es einem bietet, eine YFU-Ehrenamtliche als Gastmutter zu haben, unglaublich dankbar.

 

Obwohl ich überwiegend positive Erinnerungen mitnehme, möchte ich ehrlich sein: Sie haben recht, wenn sie sagen, dass das Auslandsjahr eine Achterbahnfahrt ist. Ich werde mich an alle oben genannten Momente erinnern aber gleichzeitig auch an die Diskussionen mit meiner Gastfamilie, oder das Gefühl, Zuhause so sehr zu vermissen, dass es fast schon körperlich wehtut. Kranksein war auch jedes Mal ziemlich beschissen, ich wurde hier erstens öfter krank und wenn, dann auch so richtig.

Ich werde nie vergessen, wie ich an meinem allersten Tag in Pueblo Esther auf die geniale Idee gekommen bin, spazieren zu gehen, um das (am Ende dann doch nicht so kleine) Dorf kennenzulernen, und mich dann verlaufen habe – natürlich ohne Simkarte im Handy und deshalb auch ohne Internetverbindung. (An alle zukünftigen Austauschschüler:innen, lernt zumindest die Basics Ja, Nein, Hallo, Können Sie mir helfen? Wo ist...? in der Sprache eures Gastlandes. Es ist nicht selbstverständlich, dass alle Menschen Englisch verstehen/sprechen).

Am schlimmsten sind wahrscheinlich diese letzten Wochen vor der Rückreise. Mir bleiben noch sieben Tage in Argentinien, und da ist dieses seltsame Gefühl, eine Mischung aus: Ich möchte nicht gehen, aber ich möchte auch zurück, ich will, dass in Deutschland alles so ist wie vorher, ich will Veränderung, ich habe Angst, mich zu sehr verändert zu haben, ich habe Angst, in naher Zukunft nicht wiederkommen zu können, ich habe Angst, den Kontakt zu xy zu verlieren, ich habe Angst, Argentinien zu sehr zu vermissen...und so weiter und so fort. Man fühlt sich irgendwie seltsam verloren. Ich denke oft, dass es eigentlich ziemlich dumm ist: Man geht ins Ausland, um sein Zuhause zu vermissen und dann kommt man zurück, nur um das Ausland zu vermissen. Aber meine Pinterest Pinnwand würde mir jetzt sagen, dass ich froh sein soll, überhaupt etwas zum Vermissen zu haben (oder so ähnlich) und im Grunde hat sie ja recht. Ich habe so viel in meinem Auslandsjahr gelernt, vor allem auch über mich selbst, dass es jedes Heimweh (sowohl nach Deutschland als auch nach Argentinien) wert ist.

Argentinien beeindruckt durch seine vielfältigen Landschaften

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Film als Schulfach

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Loreley mit ihren Gasteltern

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Bei einem Fußballspiel

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Vertikaltuchakrobatik als neues Hobby

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YFU-Ausflug mit anderen Austauschschülern

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