Was ist das für ein Gefühl, für elf Monate einen Koffer zu packen? Für ein Austauschjahr als Schülerin in einer Familie, die man vorher nicht kennt, in einem Land, dessen Sprache man nicht spricht.
Es ist ein abenteuerliches Gefühl. Aufregend und auch beängstigend. Vor allem ist es das Gefühl von Freiheit, das viele Jugendliche suchen, aber nur wenige finden.
Der Schlüssel zu einem lang erträumten Abenteuer
Seit ich klein bin, wollte ich immer ein Jahr ins Ausland. Mein Traumziel: Argentinien, das Land auf der anderen Seite der Erde, wo man Spanisch spricht, lateinamerikanisches Temperament hat, wo das Leben genossen wird, wo jeder Tag ein Feiertag ist, wo es Berge gibt, Wüsten und Meere, durch die Wale ziehen...
Also bewarb ich mich bei Youth For Understanding (YFU), einer der vielen Organisationen, die Schülerinnen und Schülern ein Jahr im Ausland ermöglichen.
Zwei Monate nach dem Bewerbungsschreiben und einem anschließenden Auswahlgespräch kam der Brief: „Liebe Leonie, zu unserer großen Freude hat unser Auswahlausschuss Dich für unser Programm nach Argentinien ausgewählt."
Was ist das für ein Gefühl, diesen Brief in der Hand zu halten, den Schlüssel zu einem lang erträumten Abenteuer? Es ist ein unvergessliches Gefühl!
...und wieder das Gefühl von Freiheit!
Was ist das für ein Gefühl, die weinende Mutter im letzten Blick auf die kleiner werdende Heimat winken zu sehen? Wie fühlt es sich an, durch die Wolken ans andere Ende der Welt zu fliegen, die Musik des letzten Sommers im Ohr, der einem schon weit weg vorkommt. Es ist wieder das Gefühl von Freiheit, das Glück eines in Erfüllung gehenden Traums. Wieder mischen auch Angst und Unsicherheit mit.
Die wohl aufregendste Zeit meines Austauschjahres
Die ersten Wochen sind die wohl aufregendste Zeit des Austauschjahres. Alles ist fremd und ungewohnt, die Sprache, die Gerüche, die Menschen...
Das erste Mal vom Muhen der Rinder begleitet einzuschlafen. Das erste argentinische Steak, um Punkt 12 Uhr. Die ersten selbst gesprochenen spanischen Sätze. Das erste freundliche Lächeln meiner anfangs skeptischen Gastschwester. Das erste Mal alleine auf dem Fahrrad nach Hause zu finden und dort seine Wäsche auf der argentinischen Wäscheleine wehen zu sehen, den ganz eigenen Geruch des Hauses langsam zu verinnerlichen...
Auch wenn ich das manchmal vergaß, Argentinien ist ein Land der dritten Welt und ich musste mich gerade in der ersten Zeit an Vieles anpassen und auf einige in Deutschland selbstverständliche Standards verzichten.
Doch gerade dieses bewusste, bedingungslose Einstellen auf meine Umgebung öffnete mir ein neues, wundervolles Leben in einer argentinischen Familie, in ihrer Welt, in welche sie mich so großzügig aufnahmen. In kleinen Bräuchen, im Zusammensein und Matetrinken, in Freundschaften und Reisen fand ich ehrliches Glück. Und in all diesen Veränderungen, die man durchmacht, hinterfragt man auch sein eigenes Leben, kommt sich und dem Sinn des Lebens ein bisschen mehr auf die Spur...
...ein Teil zu sein von der Gesellschaft...
Die ersten richtigen Freunde zu finden, Nächte zu lateinamerikanischer Musik zu durchtanzen, der aufregende Schulalltag, Tango tanzen, in der Gemeindekapelle Bass spielen... All diese Dinge geben das Gefühl, Teil zu sein einer Gesellschaft, so weit entfernt von zu Hause... Sie erfüllen mit Stolz und Hoffnung. Ein Land, seine Kultur und Menschen aus dieser Sicht kennen zu lernen ist eine einzigartige, dem Schüleraustausch eigene Erfahrung!
Argentinien ist in seiner Vielfältigkeit ein umwerfend schönes Land. Seine Hauptstadt, Buenos Aires, ist vielen Inlandsargentiniern zu groß, zu gefährlich, zu modern... Die Portenos (Hauptstadtbewohner) führen ein europäisches Leben, im Rausch des Erfolgs und der Macht. Doch wer weiter hinein fährt in die argentinische Weite, wird Menschen in ihrer ruhigen Gelassenheit, ihrem Glauben an Tradition und an die Jungfrau Maria vorfinden. Menschen, die über die Hauptstadt-Politik nur die Köpfe schütteln und mit dem Nachbarn beim Matetrinken auf den nächsten Regen hoffen.
Die Weiten Argentiniens
Wer in die argentinische Weite gelangt wird lange nichts sehen, außer geraden Straßen und ebenen Steppen, auf denen vereinzelte Rinderherden grasen. Doch wenn man lang genug fährt, durch dieses große, unbevölkerte Land, kann man die Natur in ihrer ganzen vielfältigen Schönheit entdecken. Ich bin in Reisebussen hunderte Kilometer durch den Norden Argentiniens gefahren. Ich habe 7-farbige Berge gesehen, klare Bergflüsse, schlammige Amazonasflüsse, Wasserfälle, subtropische Wälder, Steinwüsten, atemberaubende Aussichten, große Städte, kleine Städte und immer die unvergessliche Weite unter wolkenlosem Himmel und einer gnadenlose heißen Sonne. So wie ich meine Spuren in diesen Orten ließ, bleiben ihre Spuren in mir.
Tiefer noch berührten mich die Menschen, die mich in ihrer schlichten Herzlichkeit zu einer von ihnen gemacht haben, ohne ihr bewunderndes Interesse für meine Herkunft zu vergessen. Die Menschen, die mich gelehrt haben, mein europäisches Leben mit all seinen Möglichkeiten, seinem Reichtum zu schätzen und gleichzeitig ethische Werte zu bewahren, die bei ihnen noch eine größere Rolle haben.
Diese elf Monate waren mehr als nur ein Austauschjahr...
Und jetzt, wo ich meine eigene deutsche Welt mit unabhängigen Augen wiederentdecke, alte Formen wieder annehme, bewahre ich mir den Menschen, der ich in einem Jahr geworden bin. Ich bewahre mir die Freude über das Leben in seiner einfachsten Form, die erfahrene Großzügigkeit und Wärme, die Umarmungen, von meinen Gasteltern als große Tochter vorgestellt zu werden, sich zu engagieren, und in all den Abschieden zu spüren, wie wichtig man den Menschen geworden ist, wie tief die Spuren sind, die man hinterlässt... Diese Dinge machen ein Austauschjahr so einzigartig und prägen fürs ganze Leben.
Doch in der Sehnsucht nach der neu gewonnenen fernen Heimat, nach meiner Familie, meinen Freunden, meinem argentinischen Leben laufen mir Tränen über die Wangen, die bedeuten, dass diese elf Monate in Argentinien mehr waren, als nur ein Austauschjahr – es ist der Übergang zwischen einer auslaufenden Kindheit und dem, was danach kommen soll, es ist ein Schritt in die große Welt.
Und egal, ob nach Argentinien, Kenia, Irland oder USA. Ein Austauschjahr ist im Lebenslauf nicht ohne Grund ein gefragter Bestandteil, mittlerweile Standard. Man verlässt den verwandten Raum der behüteten Kindheit, und wenn man ihn nach einem Jahr wieder betritt, ist gar nicht alles anders als vorher. Bloß hat man das Privileg, ihn mit anderen Augen zu sehen, ihm eine neue persönliche Bedeutung zu geben und so viele neue Türen zu entdecken, die in die Welt führen. Hier zu stehen, ist die Freiheit, die viele Jugendliche suchen, aber nur wenige finden.