Klein aber fein. Das sagte ich meiner Mama bei unserem ersten Telefonat im September. Zu dem Zeitpunkt war ich schon einen Monat in Estland. Estland, wo ist das eigentlich? Gehört das nicht zu Russland? Sprechen die da kein Russisch?! Ja, diese Fragen musste ich meinen Freunden und Verwandten vor meinem Aufbruch ins Unbekannte vermehrt beantworten, immer und immer wieder. Zur allgemeinen Aufklärung: Nein es gehört nicht zu Russland, die Esten haben ihre eigene wunderschöne Sprache, viele Traditionen und wunderschöne Natur. Wenn man im Internet etwas über Estland liest, steht da meistens, dass die Esten kalt sind. Aber ich durfte schon ziemlich schnell feststellen, dass das nicht stimmt, auf jeden Fall nicht für die meisten. Die Esten, die ich kenne, sind aufgeschlossene und herzliche Menschen, die Nationalstolz und Lebensfreude in sich tragen.
Kunst als Vermittlerin
Auf der gesamten Autofahrt in mein neues, zweites Zuhause war ich am Staunen. Überall, an jedem Haus an jedem Pfahl, überall waren estnische Flaggen gehisst, was ich aus Deutschland bisher nur von der WM kannte. Und so schnell kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die letzten warmen Tage kamen und schon Ende September wurde es kalt, auch für Estland früh. Wir hatten ungefähr zwei Wochen um die minus 2 Grad, und dann wurde es erstmal wieder wärmer. Doch dann kam er, der estnische Winter. Kalt, weiß, lang, schön sind die Worte, die mir dazu einfallen. Ungefähr drei Monate Schnee und bis zu minus 20 Grad! Super zum Langlaufen, Schlittenfahren, Stricken und gemütlich bei Tee im Wohnzimmer einen Film mit der Familie schauen.
Allerdings war das nicht das Einzige, was ich bisher erleben durfte. Ich bin im YFU-Kunstprogramm und hier auf einer Kunstschule. Mein Traum, auf so eine Schule zu gehen, hat sich damit erfüllt, wenn auch leider nur für ein Jahr. Ich habe sehr schnell Anschluss und wunderbare Freunde gefunden, die die gleiche Leidenschaft wie ich teilen. Unter der Woche verbrachte ich fast jede Minute in der Schule. Ich hatte lange Unterricht, manchmal bis 18 Uhr, aber das hielt mich nicht davon ab, mit meinen Freundinnen noch nach Unterrichtsschluss stundenlang in der Schule zu sein, um zu malen, Farbschlachten zu veranstalten oder gemütlich in Decken gekuschelt Karten zu spielen und dabei Musik zu machen oder einfach nur zu quatschen.
Traditionen ohne Ende!
Die Weihnachtszeit hingegen war, naja, interessant. Kaum Weihnachtsschmuck, ein Baum, der einen halben Meter hoch war und ich dachte schon, dass dies mein schrecklichstes Weihnachten wird… Aber da hatte ich mich getäuscht und das hat mir wieder einmal gezeigt, dass man niemals zu schnell urteilen sollte. Es wurde bei meinem Gasturgroßvater mit der ganzen Großfamilie gefeiert und es war dementsprechend ordentlich was los. Jubel, Trubel, Heiterkeit! Und einen Weihnachtsmann gab es auch! Allerdings musste man singen, wenn man ein Geschenk bekam, was mich vor eine mehr oder minder große Herausforderung stellte. Nicht nur, dass ich zu dem Zeitpunkt kaum Estnisch konnte, nein, natürlich habe ich nicht damit gerechnet, Geschenke zu bekommen. Beim ersten Geschenk war es mehr die Überwindung, vor fremden Menschen – einige kannte ich ja gar nicht – zu singen auf einer Sprache, die ich kaum beherrschte, aber dann gingen mir irgendwann die Kinderlieder aus. Ich sang all die Lieder, an die ich mich mehr oder weniger erinnerte, weil meine Gastmutter sie oft für meinen einjährigen Bruder gesungen hatte. Wenn ich jetzt daran zurück denke, muss es sehr amüsant für all die gewesen sein, die mich gehört haben, denn ich hatte ja keine Ahnung, was ich da sang und es waren garantiert keine estnische Sätze!
Alle vier Jahre findet ein Singfestival statt, wo sehr viele Menschen zusammen estnische Lieder singen und dazu nationale Tänze tanzen. Diese Singfestivals sind ein wichtiger Bestandteil der estnischen Traditionen – nicht umsonst werden Esten auch die „Singende Nation“ genannt. Leider hat dieses Festivals nicht während meines Austauschjahres stattgefunden. Aber es gibt jedes Jahr kleinere Singfestivals in den größeren Städten. Ich war vor ein paar Wochen bei einem in Tartu und ich war einfach nur baff. Ich hatte noch nie so viele Menschen auf einem Fleck in Estland gesehen und alle, wirklich alle ohne Ausnahme sangen und manche schwenkten sogar estnische Fahnen. Es war einfach unglaublich und ich konnte die Verbundenheit der Menschen förmlich spüren.
Jetzt sind es nur noch knapp 2 Monate bis ich wieder zurück muss und das Gefühl, welches sich in mir breitmacht, ist unbeschreiblich. Ich könnte in Tränen ausbrechen, weil ich absolut noch nicht zurück will, und dass meine Freunde mir so oft sagen, ich solle nicht gehen, macht die Sache nicht einfacher (doch wieder einmal sehe ich, was für wunderbare Freunde ich gefunden habe). Andererseits freue ich mich auch schon riesig auf Deutschland. Ein Gefühl der Gegensätze, das man nicht beschreiben kann. Das muss man erlebt haben, um es zu verstehen!